das jüdische logbuch 24. Jan 2025

Unordnung in der Tagesordnung

Wien, Januar 2025. Auf der Zeitungsauslage im Café Hawelka leuchtet das Titelblatt der Stadtzeitung «Der Falter» in Gelb mit einem Aufruf der Herausgeber gegen die Regierungsbildung durch die FPÖ: «Kein Kanzler Kickl». Und dann heisst es weiter: «Die Akteure der sich schlafwandlerisch gestaltenden Ereignisse müssen aufwachen!» Das Café ist voller junger Menschen. Sie lesen Zeitungen, Bücher, treffen sich zu Gesprächen. Kaum Touristen.

Wien ist die Hochburg gegen die FPÖ. Doch wie ein Schriftsteller am Abend sagt: «Wien ist nicht Österreich.» Er macht sich ebenso Sorgen wie einige führende Vertreter der jüdischen Gemeinschaft. Doch, so sagt einer, machen sie sich nichts vor: «Ein Teil der Gemeinschaft wählt die FPÖ und unterstützt Kickl.» Es sind die typischen «Ja, aber …»-Gespräche. «Ja, natürlich sind Teile der FPÖ mit ihren Kellernazis ein Problem.» Und dann: «Aber die stoppen die Masseneinwanderung und die Islamisierung.»

Bereits hat sich eine Delegation der israelischen Regierung in Wien gemeldet und möchte mit Kickl über eine Zusammenarbeit sprechen, wird am Tag darauf ein Diplomat erzählen. Neben dem «Falter» liegen Zeitungen mit Berichten zur Inauguration von US-Präsident Trump, der seit Tagen in hoher Frequenz die Nachrichtensender mit fundamentalen Entscheidungen füttert. Die Welt arbeitet sich ebenso daran ab wie am Who is Who der Gäste von Präsidentschaftsbällen und Amtseinführungen.

«Die Tagesordnung» hiess die preisgekrönte französische Novelle von 2017 von Éric Vuillard. Sie ist eine Mischung aus Geschichtsschreibung und literarischer Erzählung und behandelt die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs, insbesondere die Rolle von Wirtschaft und Politik bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Es beginnt mit dem Treffen der führenden Industriellen am 20. Februar 1933 mit Adolf Hitler. Dort sichern die Krupps, Siemens und Opels den Nationalsozialisten ihre Unterstützung zu. Es ist der Beginn des Regimewandels, das Ende der liberalen Demokratie und der Anfang einer autokratischen, schliesslich totalitären Dynamik. Es ist ein Buch über die dunklen Mechanismen der Macht und eine Reflexion über die Lehren der Geschichte.

Nun machen die Zuckerbergs, Musks und Bezos den Kniefall vor Trump und öffnen ihre Kanäle für politisch orchestrierte Hassrede. Die «Ja, aber …» sind schon zu hören: «Trump ist gut für Israel.» Ist er auch gut für die Juden? «Die Tech-Unternehmer sind die Waffe gegen russische und chinesische Infiltration.» Weshalb partizipieren sie dann nicht am Gesellschaftsvertrag gegen Hassrede, Rassismus und Antisemitismus, sondern entfernen sich gerade davon? «Trump wird die US-Wirtschaft noch weiter nach vorne katapultieren.» Geht das nicht auch mit Anstand, ohne Erpressung, Drohung oder Remigration? Im Zeitungsstapel liegt eine ältere Ausgabe des «Der Falter», angelehnt an Karl Kraus: «Die letzten Tage der 2. Republik – Kanzler Kickl reitet ein». Trump, Kickl, Weidel sind nicht Hitler, Mussolini oder Franco. Falsche Analogien führen nicht zum richtigen Blick auf die Gegenwart. Doch die Sezierung von Mechanismen legt das Räderwerk faschistoider, dumpfer, völkischer, antiliberaler und undemokratischer Entwicklungen offen. Wer da «Ja, aber …» flüstert oder lauthals hinaus posaunt, wird zum Teil davon – und jener vielen, die «Ja, aber …» sagten, ohne daran zu denken, dass sie eines Tages die Koffer packen müssen.

Im Hawelka stellt der Kellner einen Franziskaner auf den Tisch. Trinken möchte man ihn nicht, doch irgendwie möchte man doch an der Wiener Nostalgie festhalten, die die Dynamik einer entfesselten Welt für einen Augenblick durchbricht. Doch die Zeitungslektüre hält lässt diese nicht zu und erinnert an das Bonmot des Wiener Schriftsteller Karl Krauss: «Die grösste Dummheit des Teufels ist, dass er immer Leute findet, die an ihn glauben.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann