Das Jüdische Logbuch 22. Mär 2019

Purim der Gegenwart

Freiburg-Basel, März 2019. Mythologie trifft auf Realität. Iran feiert seinen 40. Jahrestag der Revolution. Brachiale Bilder aus einem Land in der Wirtschaftskrise. Da mag die Propaganda nach innen, längst aber nicht mehr nach aussen wirken. Am Abend dann wird in den Synagogen weltweit das Buch Esther gelesen, als ob es eine Anachronie wäre. Die Geschichte von der Errettung der Juden vor dem persischen Despoten Haman. Juden sollten getötet werden, weil sie Juden sind. Eine List von Königin Esther kostete Haman das Leben. Die Juden wurden gerettet, jedenfalls bis zum nächsten Genozidversuch. Die Fahrt im Zug durch Deutschland. Ein anderes Deutschland, das entlang der Purimgeschichte doch wieder zwei Gesichter hat. Im Radio spricht der ungarische Schriftsteller György Dalos über Ungarn und seinen Despoten Viktor Orbán und sagt: «Es ist eine auf Orbán zugeschnittene Ein-Mann-Demokratie.» Da ist es wieder, dieses moderne Haman-Bild. Das Purimfest der Gegenwart rückt die Orbáns, die Ahmadinejads und andere Regimeführer ins historische Bewusstsein, ins Heute. Amalek, Haman, Despotismus leben mythisch aufgeladen wieder auf. Das Attentat von Christchurch liegt nur wenige Tage zurück. Über 50 Muslime starben, weil sie Muslime waren. Menschen werden ermordet, weil sie einer Ethnie, Religion, Kultur angehören. Und so fort. Die Purimpointe der anderen Art liefern am Donnerstag pünktlich zur zweiten Lesung der Megila Esther der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus mit dem Schwachsinn, der seit Jahren Methode hat und die falsche Methodik anwendet, dem Bericht über die jährlichen antisemitischen Vorfälle in der Schweiz. Wieder widersprechen sich die Berichte der Romandie (der SIG unterstützt auch diesen finanziell) mit jenem in der Deutschschweiz diametral. Der SIG weiss aber nichts Besseres, als einen methodischen Unsinn auf die mediale Öffentlichkeit loszulassen, die unreflektiert darauf eingeht. Themen wie Antisemitismus und Rassismus sollten nicht jüdischen Lobbyisten und Dilettanten überlassen, sondern endlich auch in der Schweiz seriös von unabhängigen Forschungsstellen betreut werden.

Die Purimgeschichte lehrt den Feind, den es in jeder Generation gibt, dass er durchaus waffenlos überwunden werden kann. Die Revolution als Elexier gegen das Prinzip Amalek. Wo allenfalls liegt der Sinn im Ganzen? Kann sich Vernunft gegen Natur durchsetzen? Ausgrenzung, Rassismus, Antisemitismus als Überwindung der Freiheit? Die Negation des Anderen und die Selbstüberhöhung? Oder sind es die Ideologien? Die Literatur hat die Diktatoren und Massenmörder alle vorweg beschrieben. Doch sie hat sie nicht kreiert. Der erste jüdische Massenmord hat nie stattgefunden, weil die Literatur und die List einer Frau ihn verhindert haben. Die Erkenntnis ist durchaus vor dem Versagen auf der Welt. Diese Lehre aus Purim ist letztlich Teil einer friedlichen Freiheitsgeschichte.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann