das jüdische logbuch 22. Sep 2023

Photosynthese und das gebrochene Gelübde

Berlin, September 2023. Die goldene Kuppel der wiederaufgebauten Synagoge an der Oranienburgerstrasse leuchtet in der Spätsommersonne bei immer noch 30 Grad. Sie seht im perspektivischen Dialog mit der silbern strahlenden Kugel am Fernsehturm aus, als ob Geschichte und Moderne sich etwas zurufen wollten. Dass die zehn Busstage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur, mit der Generalversammlung der Vereinten Nationen zusammenfallen, ist reiner Zufall und doch voller symbolischer Bedeutung. Denn längst ist mythologische Busse der einzelnen Menschen nicht mehr von einer der Gemeinschaft zu trennen, nicht mehr an einzelne Religionen, Ethnien, Kulturen, Nationen und so fort gebunden, sondern Teil eines Menschheitsorganismus, der alle global betrifft. UN-Generalsekretär António Guterres hat vor Beginn der Generalversammlung in einer alarmierenden Rede das Versagen der Staaten bei den Klimaschutzzielen angemahnt und in der Generaldebatte vor einem Zusammenbruch der Weltwirtschaft gewarnt. Ohne eine klare Handlungs- und Kompromissbereitschaft zwischen den Nationen seien die grossen Probleme unserer Zeit, und dazu zählten neben Kriegen und der Klimakrise auch Armut und Hunger, nicht zu bewältigen, sagte Guterres. «Wir bewegen uns Stück für Stück in Richtung eines grossen Bruchs in Sachen Wirtschaft, Finanzsysteme und Handelsbeziehungen», erklärte der UN-Generalsekretär. Man muss kein Apokalyptiker sein, um die Realität zu erkennen, die noch nicht mal auf die Entwicklungen referiert, die da noch unbeachtet anstehen. Im Fachmagazin «Nature» ist vor drei Wochen ein Artikel erschienen, der aufzeigt, wie rasch neue globale Bedrohungen eintreten können. Photosynthese, die Produktion von Zucker und Sauerstoff unter Verwendung von Licht, Wasser und CO2, ist die Lebensgrundlage für die Biosphäre des Planeten Erde. Allerdings funktioniert der Prozess, der ein Charakteristikum der Pflanzenwelt darstellt, nur unter bestimmten Temperaturbedingungen. Bei einem ungebremsten Voranschreiten der Klimaerwärmung ist nicht mehr auszuschliessen, dass die zulässige Höchsttemperatur in tropischen Wäldern zeitweise überschritten wird. Wenn die Photosynthese bedroht ist, dann sind es Mensch und Natur. Rasch werden die Richard Bransons, Elon Musks und Jeff Bezos dieser Welt mit neuen Produkten zur Stelle sein. Doch lösen werden sie die Probleme mit dem Techpopulismus nicht, genauso wenig wie die Hüterinnen und Hüter der Schöpfung in «Gotteshäusern» frühzeitig den Wandel in ihren Gemeinschaften eingeläutet haben. Das Kol-Nidrei-Gebet wird in diesen Tagen eine ganz neue Bedeutung erhalten. Der aufgeklärte Gesellschaftsvertrag muss einer mit der Idee der Schöpfung, mit dem Planeten, und die «akedat Jtzchak» neu gelesen werden im Kontext der Abkehr der Menschen von der eigenen Natur. Die UN-Generalvesammlung ist eine der leereren denn tatgetränkten Worte. Die Gebete sind es auch. Die einen hoffen zu oft auf die Wendungen der Zukunft, die anderen auf die Götter der Erzählungen. Doch darauf sollte sich die Menschheit längst nicht mehr verlassen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann