das jüdische logbuch 17. Jun 2022

Ostwest Sonne, Nordsüd Dialog

Tanger, Juni 2022. Die Stadt im Norden Marokkos am Anfang der Strasse von Gibraltar markiert die Grenze am Übergang von Atlantik zum Mittelmeer. In diesen Tagen weht ein heftiger Wind vom Landesinnern hin nach Westen, der Himmel wolkenfrei und die menschenleere weite Sandküste brennt in der Sonne. Tanger ist mehr als der Mythos einer geheimnisumwobenen Hafenstadt am Eingang Afrikas in Blickweite Europas. Die Stadt, in der die Sonne am Mittelmeer auf- und im Atlantik untergeht. Die jüdisch-muslimische Geschichte ist eng geknüpft im Austausch des andalusischen Mittelalters und der Migrationsbewegung durch die Jahrhunderte in beide Richtungen. Davon zeugt auch der Gang durch die Altstadt von Tanger, in deren Zentrum auf einem Hügelvorsprung mit Blick auf das Meer der jüdische Friedhof mit seinen weissen inschriftlosen Grabsteinen im hellen Licht strahlt, mit drei wunderbaren Synagogen inmitten der Medina und Europa stets im Blick ist. Es ist der Ort für Austausch, Dialog und eine Dialektik stets im Angesicht der immer wieder offenen-geschlossenen Grenzen. Es ist der Ort der Reflexion, in dem eingebrannte Denkmuster und Kategorien, wie Ost und West, Europäische Werte, Aufklärung neu betrachtet und durchaus aufgebrochen werden können – durch die Kultur der vermeintlich anderen. 1956 verliessen rund 13 000 Jüdinnen und Juden Tanger in Richtung Europa und Israel wie die meisten Juden von Marokko. Es war das Ende des Zusammenlebens zwischen Muslimen und Juden über Jahrhunderte. Die Politik hat sich zwischen die Gemeinschaften geworfen. Die «Protokolle von Tanger» haben die Hafenstadt ins Königreich zurückintegriert und den Freistaat aufgehoben. Es folgten Jahrzehnte von Trennung, nostalgischem Heimweh und immer wieder Misstrauen. Heute leben noch rund 70 Juden in Tanger. In Marokko wie anderen Ländern des Maghreb wurde schon lange vor den Abraham-Abkommen das jüdische Erbe und der Versuch der Rückkehr von jüdischen Gemeinden diskutiert und teils praktiziert, diplomatische Beziehungen mit Israel wurden verstärkt und das jüdisch-muslimische Erbe neu in die Diskussion gerückt. Tanger ist längst bevorzugter Reise- und Zweitwohnort vor allem auch von französischen Juden geworden. Ob mehr daraus werden kann, wird sich zeigen. Die jüdische Infrastruktur ist da – und vieles mehr.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann