Das Jüdische Logbuch 22. Jun 2018

Nächstes Jahr in Lissabon

Haifa, Juni 2018. Ein starker Wind weht vom Meer. Alles blüht. Die Sonne brennt senkrecht vom Himmel, keine Schatten. Irgendwo zwischen Netanya und Haifa inmitten von Sanddünen – ein idyllischer, beruhigender, unwirklich wirklicher Ort. Aus der Ferne sind spielende, lachende Kinder zu hören. Yael ist etwas über 50 Jahre alt; sie hat den Grad einer Majorin in der israelischen Armee. Als Psychologin hat sie dort zuletzt jahrelang Soldatinnen und Soldaten betreut. Die Traumata aufgearbeitet, die junge Menschen erleiden, wenn sie in existentiell schwierige Situationen gelangen; komplexe, oft bedrückende Geschichten. Die Armee hat sie wie üblich früh in Rente geschickt. Heute produziert sie Serien unter anderem für das israelische Fernsehen. Yaels Eltern stammen aus Marokko, der Vater aus dem weltoffenen Casablanca, die Mutter aus einer Stadt im Atlasgebirge. Sie ist in Israel geboren, als Älteste von sieben Geschwistern aufgewachsen und religiös, trotz aller Offenheit des Vaters. Unverheiratet, keine Kinder. In Marokko war sie nie – und hat doch beständig Heimweh. Sie spricht bedächtig. Die dunkeln Augen blicken dem Gegenüber tief, aber nie aggressiv ins Gesicht. Der Blick bleibt intensiv hinter den langen braunen Haaren, mit denen unablässig der Wind spielt. Yael liebt Israel und verabscheut seine Regierung. Aufgewachsen in Yafo mit Arabern, spricht sie über diese Zeit mit Wehmut. Heute lebt sie in Nord-Tel Aviv. Zu schmerzvoll sind die Erinnerungen an die harte Kindheit in sozialer Not, der Verlust der damaligen Gesellschaft der Vielfalt abseits von identitären Fragen. Jeder Satz von Yael ist scharf gedacht, weich formuliert und liebevoll ausgesprochen. Im Ausland hat sie nie gelebt, ist aber viel gereist. In wenigen Monaten wird sie ihren portugiesischen Pass erhalten. Diesen hat sie sofort beantragt, als vor einigen Jahren die Parlamente in Spanien und Portugal beschlossen haben, dass Nachkommen von 1492 vertriebenen Juden einen Antrag stellen können. Ende des 15. Jahrhunderts stellten beide Länder jüdische Bürger vor die Wahl: katholisch werden oder das Land verlassen. Vertrieben wurden rund 100 000 Juden. Viele gingen nach Marokko. Rund 3,5 Millionen Sephardim leben heute weltweit. Mehr als fünf Jahrhunderte später soll nun das damalige Unrecht, das in Vertreibung, Flucht und nicht selten Tod endete, moralisch kompensiert werden. Yael spricht nicht über Krieg, Flucht und Frieden, sondern über Schicksale von Menschen, ihre Geschichten. Yael erzählt unaufdringlich von Wirklichkeiten. Krieg, Konflikte, das Abscheuliche erwähnt sie nicht – nur die Geschichte von Menschen, die dadurch geprägt sind fürs Leben. Geschichten von Menschen aus der Armee. Geschichten, die sie in sich trägt wie ihre eigene, zwischen Vertreibungen von einst in Spanien, Migration aus Marokko und prägender Kindheit. Die traurig-zuversichtlichen, ruhenden Augen voller Hoffnung wenden den Blick ab zu den spielenden Kindern in den kleinen Dünen. Yael steht auf, geht in deren Richtung, blickt kurz zurück und ruft: «Nächstes Jahr in Lissabon!».

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann