Zürich, Januar 2022. Wer sind die eigentlichen Antisemiten – jene, die Antisemitismus zulassen oder jene die antisemitisch agieren? Die Causa Bührle fördert in Hintergrundgesprächen, in Leserkommentaren und sozialen Medien wiederum altbekannte Stereotype zutage. Viele Züricher avancieren nicht zuletzt auf digitalen Plattformen geradezu zu Bührle-Verstehern. Juden werden stigmatisiert, Forderungen nach Aufklärung und anderes verhöhnt. Zürichs amtierende Regierung hat nicht nur nicht davor zurückgeschreckt, den Nazi-Kollaborateur Georg E. Bührle im öffentlichen Raum zu legitimieren, das Ansehen der Stadt weltweit zu beschädigen, sondern zwingt Jüdinnen und Juden in eine Debatte, die man vor einem Jahr nicht für möglich gehalten hätte. Die politische Verantwortung für all dies trägt Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch mit ihrer Regierung und Teilen der Kantonsregierung. Als nun Anfang Januar der Druck zu gross wurde und der Wahlkampf für Zürichs Gemeinderats-, Stadtrats- und Stadtpräsidiumswahlen in die Gänge kam, vollzog Corine Mauch in der Causa Bührle die Charmeoffensive und frisst zumindest kommunikativ Kreide. Echte neue Forderungen stellt sie allerdings nicht. Im Interview mit dem «Sonntagsblick» sagte sie letzten Sonntag: «Wir sind in einem guten, konstruktiven Austausch mit dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und mit der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ).» Zwei Organisationen, die zur Causa Bührle bis November 2021 nichts gesagt, nichts gefordert oder mit Blick auf die Eröffnung der Sammlung Bührle nichts gemacht haben. Was nicht nur in der jüdischen Welt für sprachloses Staunen sorgte, stellt sich für Mauch selbstredend als dankbare Allianz dar und erinnert an Friedrich Torbergs Zeile in seinem Roman «Die Tante Jolesch»: «Was setzt du dich hin Karten spielen mit Leuten, was sich hinsetzen Karten spielen mit dir?» Was bei Jolesch noch klar in eine Richtung adressiert war, gilt in der Causa Bührle für beide Seiten, wenn nächste Woche Gespräche zwischen Mauch, SIG und ICZ stattfinden. Die beiden jüdischen Organisationen wollen die Stadtregierung für eine gute Lösung beraten. Doch was kann diese sein? Die von anderen formulierte Forderung nach unabhängiger Provenienzforschung der Sammlung und Darstellung der ehemaligen Inhaberfamilien der Bilder ist seit Jahren auf dem Tisch. Ebenso die seit Monaten von anderen geforderte Offenlegung von Leihverträgen oder grundlegenden Änderungen im Dokumentationsraum zur Sammlung Bührle. Was Pflicht gewesen wäre vor der Eröffnung des Kunsthaus Zürich, wird nun zur Kür erhoben. Anders bei der Debatte um die seit Jahrhunderten vorhanden Inschriften zum Thema «Mohren» in der Stadt Zürich. Da handelte die Stadtpräsidentin rasch und sagte der NZZ im April 2021: «Rassismus kann und darf nicht toleriert werden.» Gehandelt wurde schnell. «Mohren» sollten aus dem öffentlichen Raum von Wandegemälden oder Namenstafeln entfernt werden. SP-Politikerin Mauch indessen ist zur Stadthalterin von Zürichs Eliten geworden, namentlich auch der Familie Bührle. Die Familie zählt zu den reichsten in der Schweiz, wird von Zürich und ihren Eliten hofiert. Daran können auch jüngste Recherchen über Zwangsarbeit im «Beobachter» nichts ändern. Stand die Linke einst noch für radikale Aufklärung der Schweizer Geschichte, für die Rehabilitierung des Judenretters Paul Grüninger, für den Einsatz um Gerechtigkeit für die Opfer des NS-Regimes, steht die neue Generation für fahrlässige Geschichtsvergessenheit und Unaufrichtigkeit bis hin in den Bundesrat, da Kulturminister Berset in Sachen unabhängiger Expertenkommission etwa für Raubkunst herumlaviert. Blutgeld ist Basis für den Aufstieg der Familie Bührle. An den Wänden der Familien hängen jene Zweidrittel der Kunstsammlung Bührle, die nie in die Stiftung überführt wurden. Darunter vermutlich nicht wenig unaufgearbeitete Raubkunst.
Als 2001 die Sammlung von Christian Friedrich Flick in Zürich ein Museum unweit vom Schiffbau erhalten wollte, reagierte Zürich anders. Der damalige Schauspielhaus-Direktor Christoph Marthaler reagierte mit vehementer Kritik gegen ein Flick-Museum. Sein Protest erhielt Unterstützung von zahlreichen Kulturschaffenden und Politikern. Flick zog seine Pläne zurück und ging nach Berlin. Marthaler argumentierte: «Wir können den Gedanken nicht verdrängen, dass die Exponate dieser Sammlung mit Kriegsverbrecher-Geld und enteignetem, arisiertem jüdischem Vermögen bezahlt wurden. Die Kunst der Sammlung können wir nicht trennen vom Wissen darüber, dass sich die Familie Flick bis heute weigert, Entschädigungsgelder an ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge zu bezahlen. Kunst ‹veredelt› in diesem Fall nicht.» Die Sammlung fand ihr Ende meist in den Kellern des Berliner Museums Hamburger Bahnhof, von wo sie Flick jetzt abgezogen hat. Letztlich wollten die Züricherinnen und Zürcher eine solche Sammlung nicht. Während andere Sammler das Kunsthaus Zürich im Zuge der aktuellen Debatte eher meiden, würde nicht überraschen, wenn Flick bald wieder in Zürich anklopft und Unterschlupf für seine Sammlung in Zürich sucht. Die Stadt wird allereings um die Aufarbeitung der politischen Verantwortung und Vorgänge der letzten Jahre nicht herumkommen. Längst wäre hier eine parlamentarische Untersuchungskommission angesagt gewesen, die Offenlegung vieler Dokumente oder des Leihvertrags noch vor den Wahlen. Zumindest diesmal soll Zürichs Stimmbevölkerung Transparenz erfahren anstatt Schuldzuweisungen von der Stadpräsidentin im «Sonntagsblick»-Interview zugewiesen zu erhalten: «So hatten, als 2012 über den Kunsthauskredit gestritten wurde, auch prominente Stimmen, die sich heute an vorderster Front an der Debatte beteiligen, noch nicht Provenienzen im Fokus, sondern rühmten vornehmlich die Chancen, die die Ausstellung bringt. Ich erachte das nicht als Vorwurf. Aber ich stelle fest, dass eine gesellschaftliche Debatte nicht stehen bleibt. Wir befinden uns heute, zehn Jahre später, an einem anderen Punkt.» Die Gesellschaft hat sich nicht gewandelt. Die Stadtregierung und Corine Mauch hat damals die Verquickung mit der Bührle-Sammlung bei der Abstimmung zum Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich erfolgreich aus der Diskussion oder weitgehend auch aus den Abstimmungsunterlagen herausgehalten (tachles berichtete). Diese und andere Maucheleien haben zum Kunsthaus-Desaster geführt.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
14. Jan 2022
Maucheleien – Mohren raus, Nazis rein
Yves Kugelmann