Elsass, Dezember 2019. Sind Juden noch Juden in der öffentlichen Meinung? Oder werden sie zunehmend zum Symbol, zur Chiffre, zur Projektion für etwas, oder alles Mögliche? Das Elsass war lange ein jüdisches Zentrum. In den meisten Dörfern gibt es noch Spuren jüdischer Vergangenheit. Doch effektiv gibt es heute nur noch in Strassburg, Mülhausen, Colmar und St. Louis aktives jüdisches Leben. Dennoch mehren sich Attacken in den letzten Jahren auf jüdische Symbole. Die Attacke auf den Koschermarkt von New Jersey dieser Woche, die Grabschändungen im Elsass vor zwei Wochen, das Attentat von Halle und weltweit viele andere verbale oder gewalttätige Ereignisse der letzten Monate zeigen, dass es bei Angriffen auf Juden längst nicht um rein antisemitische, judenfeindliche, sondern eben um Anschläge auf das handelt, was Jüdinnen und Juden nicht nur in den Augen der Angreifer, sondern oft weit darüber hinaus repräsentieren. Juden werden auch für das angegriffen, was auf sie als Gemeinschaft projiziert wird. Das ist nicht neu, hat schon vor den «Protokollen der Weisen von Zion» über Jahrhunderte Gemeinschaften gegen Juden aufgebracht und Verschwörungstheorien und somit auch dem modernen Antisemitismus den Weg geebnet. Neu ist aber die überdimensionale Präsenz der sogenannten jüdischen in Verbindung mit der israelischen Chiffre im öffentlichen Diskurs. Dominierte der Nahostkonflikt über Jahrzehnte den politischen Diskurs, sind es seit Beginn der Trump-Regierung, seit Binyamin Netanyahus Pakten mit ungarischen anderen politischen Teufeln zunehmend Israel und ein Chiffrenhaftes Judentum, das von von allen Seiten vereinnahmt, instrumentalisiert und geradezu übergriffig angerufen wird. Die Mechanismen sind die alten geblieben. Die Stigmatisierung allerdings trifft in eine Phase jüdischer Emanzipation, die in der westlichen Welt stark fortgeschritten ist, innerhalb der jüdischen Gemeinschaften, aber auch seitens Gesellschaften und Behörden. Juden sind heute besser geschützt als jemals zuvor. Und zugleich wird das vermeintlich Jüdische mehr und mehr öffentlich – und öffentlich angeboten. Wie komplex all das sein kann, zeigt sich vor allem in den Täteranalysen, deren Biografen und letztlich schriflichen «Manifeste», in der Sozialisation von rechtsextremen, evangelikalen und vielen anderen Kreisen, für das Jüdische in vielfältigen Ausprägungen zum Mantra geworden ist wie einst der Jesusmord in Kirchen. Am Montag stammten die Attentäter aus einer Sekte mit diffusen Weltbildern. Mit Charlottesville öffneten sich der Öffenttlichkeit Einblicke in eine Welt religiös aufgeladener Rechtsextremer Bewegungen in den USA und so fort. Das gefährlichste für Juden ist nicht mehr nur der klassische, sich wandelnde Antisemitismus, sondern der Übergriff per se, der Juden ebenso wie andere Minderheiten zur Chiffre und somit zu prädestinierten Hass- und Angriffsobjekten macht.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das Jüdische Logbuch
13. Dez 2019
Juden als Chiffre
Yves Kugelmann