das jüdische logbuch 25. Feb 2022

Gesellschaft ohne gestern

Amsterdam, Februar 2022. Europa ist im Krieg – der Zweite Weltkrieg, vielleicht sogar der Erste knallen wie ein Echo in die Gegenwart auf eine Gesellschaft ohne gestern. Sie lebt gnadenlos heute für morgen. Sie begegnet dem Gestern mit der kalten Schulter, undankbar, selbstsüchtig. Die Gesellschaft ohne gestern stellt sich über alles. Über die Kette der Vergangenheit, über die Wurzeln, über das Wir. Die Gesellschaft ohne gestern kennt vor allem das Ich, die losgelöste Identität. Sie ist kapitalistisch. Die Gesellschaft ohne gestern hat kein Bewusstsein – nicht für Geschichte, nicht für historische Prägungen, nicht für Verantwortung gegenüber der Geschichte. Die Gesellschaft ohne gestern hat keine Scham. Sie hat keine Empathie. Sie hat kein Gedächtnis, kein kulturelles, kein soziales, kein gemeinschaftliches. Die Gesellschaft ohne gestern kennt keine Freiheit – ausser für sich selbst. Sie ist in letzter Konsequent bigott, arrogant, inhuman – selbstsüchtig. Die Gesellschaft ohne gestern zieht keine Lehren, sie hat kein Gewissen und erhebt sich über alles. Die Gesellschaft ohne gestern vergisst, sie relativiert Vergangenheit oder sie verordnet ein Gestern, dass es so nie gegeben hat. Wie eine Dampfwalze macht sie alles platt und ist überrascht, wenn die Vergangenheit in Form von Erinnerungskultur, von Warnzeichen, Nachkommen von Opfern von einst an die Tür klopft. Wie absurd eine Gesellschaft ohne gestern agiert, zeigt in der Schweiz der Umgang mit NS-Geschichte oder aktuell in Deutschland das Instagram-Projekt «Ich bin Sophie Scholl», in dem Geschichte und ihre Opfer zum Nonsens verkommen. In seiner letztwöchigen Folge des «ZDF Magazin Royale» zeigte der Satiriker Jan Böhmermann exemplarisch auf, was Defizite an Erinnerungskultur und selbstgerechte Redaktoren für Irrungen und Wirrungen auf eine uniformierte junge Zielgruppe loslassen können. Der Zweite Weltkrieg als Event wider die Fakten, das Schicksal von Opfern auf Schiessbudenniveau. Nun ist wieder Krieg in Europa – seit Jahren. Die Gesellschaft ohne gestern hat ihn zugelassen mit verschlossenen Augen, und der Schweizer Bundesrat hat am Mittwoch die Politik ohne gestern vorderhand in Stein gemeisselt: keine Sanktionen gegen Russland. Erinnerungskultur darf die Zukunft nicht geisseln – doch eine Wertegesellschaft kann nicht nur in eine Richtung losmarschieren. Denn das Morgen begann gestern. Der Krieg in Europa hat vor vielen Jahren begonnen. Wer Putins Giftgasangriffe in Syrien, die verheerenden Tschetschenien-Kriege vergessen und schon damals die Augen davor verschlossen hat, hat sich in falscher Sicherheit gewiegt im kapitalistischen Dornröschenschlaf.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdische Medien AG.

Yves Kugelmann