Das Jüdische Logbuch 12. Jul 2019

Die Ermordung des Judentums

Berlin, Juli 2019. Der Talmud und die Abschriften der Zionistenkongresse im 
20. Jahrhundert sind gelebtes Judentum und geistige Feuerwerke. Wie kaum andere jüdische Texte zeigen sie auf, was Judentum ist. Sie zu lesen ist kein religiöser Akt, sondern ein solcher im Selbstverständnis der Entwicklung des Judentums über Jahrhunderte. Man kann darüber debattieren, ob sie religiös zu lesen sind oder erst durch die Religion entstanden sind. Hätten jüdische Funktionäre der Gegenwart und viele der Vergangenheit daran mitgewirkt, wären die Texte, Debatten und Protokolle in dieser Offenheit, Freiheit, Radikalität nie entstanden. Dort, wo das bessere Argument gewinnt ist, auch alles erlaubt, um zu diesem zu kommen und es sich zu erkämpfen. Das gilt gerade auch bei künstlichen Grenzziehungen zwischen einer jüdischen vermeintlichen Diaspora und Israel.

Es ist Donnerstagnachmittag in einem der Berliner Kaffeehäuser, in denen einst die säkulare jüdische Diskussion so inspiriert, so konträr, so heftig geführt wurde. Einmal mehr wird diskutiert, allerdings mit anderen Vorzeichen. Längst existiert die jüdische Debatte dort nicht mehr. Fast schon tot wohl im wahrsten Sinne des Wortes. Die Schoah hat sie weitgehend gekappt – doch nicht für immer. Zugleich ist die immer wiederkehrende Debatte um das Jüdische Museum in Berlin gerade in Deutschland nur im Kontext der Schoah zu sehen (vgl. tachles 26/2019).

Das Judentum kennt keine Dogmatik, selbst dort nicht, wo es dogmatische Einflüsse geben könnte. Judentum kennt keine Unterwerfung – nicht mal jene unter Gott. Die Debatten um das jüdische Recht im Talmud beginnen mit einem Argument, das zwar Quellen diskutiert und einbezieht, aber nicht als dogmatische Lehrgrundsätze vorangehen lässt, sondern permanent in Frage stellend, hinterfragend, verhandelnd, debattierend, diskutierend behandelt und menschlich verhandelt. Denn letztlich bedeutet das Judentum auch immer wieder die Infragestellung der Obrigkeiten, der Instanzen und letztlich auch des Göttlichen. Der eingebrachte Widerspruch zieht sich durch die jüdischen Mythen, Quellen und Geschichten von Eva über Abraham bis Moses und viel weiter.

Die Debatte um das Jüdische Museum ist soweit geführt. Innerjüdisch, wenn es so etwas überhaupt jemals gegeben haben sollte, ist sie aber nicht einmal ansatzweise verhandelt worden. Dabei geht es nicht um die Frage, was soll, darf und kann ein jüdisches oder Museum, das sich mit jüdischer Geschichte und Gegenwart befasst, sondern wie kann sich eine jüdische Kultur entwickeln und verhalten, wenn sie von jüdischen Funktionären sanktioniert, kontrolliert, fraktioniert und oft von nicht jüdischen Akteuren bevormundet, mit Übergriffen oder Erpressungsmechanismen belegt wird. Es gibt gute Gründe dafür, weshalb die jüdische Kultur aus einer inneren Stärke hervor mythologische bis reale Vernichtungen von Amalek bis zu totalitären antisemitischen Regimen überleben konnte und eigentlich immer überleben wird. Es wird auch jüdische Funktionäre überleben, allerdings mit weniger Brillanz, mit weniger Esprit – amputiert um seiner selbst. Sie werden die jüdische Debatte zwar nicht ersticken können, weil letztlich die jüdische Debatte anarchistisch ist wie das Judentum selbst. Aber sie können der Debatte viel Sauerstoff nehmen und sie – mit welchem falsch verstandenen Ziel auch immer – mit viel Anmassung zu dominieren versuchen. Scheitern werden sie daran ohnehin. Spätestens dann werden sie die Brillanz von Texten wie dem Talmud oder die Qualität der Protokolle der historischen Zionistenkongresse fraktionsübergreifend erahnen können – hoffentlich.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann