Berlin, März 2025. Den Blick Richtung Reichstag führt die Wilhelmstrasse von der Spree Richtung Brandenburger Tor. Hier hat Hans Goslar im Preussischen Innenministerium der Weimarer Republik gearbeitet bis vor seiner Emigration nach Holland. Er wurde in Bergen-Belsen ermordet. Er war ein bedeutender politischer Beamter, setzte sich in seinen Schriften für Freiheit der Presse und Meinungsäusserung, Rechtsstaatlichkeit und Verfassungstreue, Schutz der Republik vor antidemokratischen Kräften ein. Vor einem Jahr hätte sich das als historische Referenz und Fussnote der Geschichte gelesen. Einen Tag nach der Justizreform in Israel, einen Tag nach Beginn der israelischen Antisemitismuskonferenz mit Gästen aus rechtsextremen europäischen Parteien, in den Wochen seit den Angriffen von Donald Trump auf das liberale Amerika mit seinem Kampf gegen öffentlich-rechtliche Presse, Wissenschaft und Kultur wird es zum Déjà-vu ohne Not.
Goslar war ein bewusster, praktizierender Jude, verfasste 1919 den Text «Jüdische Weltherrschaft! Phantasiegebilde oder Wirklichkeit?», in dem er antijüdische Verschwörungstheorien öffentlich widerlegt. Er war überzeugter Verfechter der liberalen demokratischen Werte und der Verfassungsdemokratie. Gerettet hat ihn das nicht – aber vielleicht hat er mit so vielen anderen mehr für die heutige Demokratie geleistet, als in der Gegenwart bewusst sein mag. Das gilt erst recht und gerade für Israel. Zur Antisemitismuskonferenz mit Antisemiten hat der Diasporaminister Israels geladen (vgl. Seite 12). Das Judentum ausserhalb Israels hat sich einer Diaspora-Terminologie unterworfen, die weiter geht als der Begriff. Er meint eine Asymmetrie und teilweise Selbstaufgabe, die in Zeiten von Nationalismus noch mehr zutage tritt als früher. Unabhängig von der Frage, ob die IHRA-Definition des Antisemitismus mit der Einbindung grenzüberschreitender Israel-Kritik richtig oder falsch ist, wird sie nicht vor politischer Vereinnahmung israelischer oder auch jüdischer Organisationen bewahrt und somit selbst ein missbrauchtes Instrument für eine wichtige und richtige Sache: den Kampf gegen Judenfeindschaft.
Die Antisemitismuskonferenz zeigt, wie weit Israel Judentum und Antisemitismus bereits okkupiert und die Definitionshoheit übernommen hat. Die Ideologie hinter dem Klamauk mit ernstem Hintergrund ist klar: es geht um völkische Ideologie. Der israelische Historiker und Antisemitismusforscher Mosche Zimmermann nennt die Konferenz auf Schweizer Radio SRF ein «Eigentor». Solche Instrumentalisierung des Antisemitismus führe dazu, dass man nicht mehr weiss, was eigentlich Antisemitismus sei, und bringt es auf die Formel: «Wenn man davon ausgeht, dass jeder, der diese israelische Regierung unterstützt, kein Antisemit ist – und jeder, der diese Regierung kritisiert, ein Antisemit ist, dann hat man die Möglichkeit, mit den Rechtsradikalen in Europa zu kooperieren.»
War Judentum jemals radikaler als heute? War der aufständische Simon Bar Kochba, war Wladimir Jabotinsky, später die Lehchi- oder Irgun-Bewegungen ebenso radikal wie Teile der heutigen israelischen Regierung? War Judentum jemals so ausgehöhlt wie heute? Israels rechtsextreme Regierung war längst an der Macht, als am 7. Oktober 2023 die Hamas-Massaker die historische Zäsur für Israelis und Juden brachte. Mit nunmehr bald 550 Tagen Abstand zeigt sich, wie Israels extreme Rechte im Windschatten eines taumelnden und doch immer wieder starken Premierministers den israelischen Nationalismus radikalisiert und judaisiert. Doch selbst ein jüdischer Nationalstaat kann kein jüdischer Staat oder dann nur eine Theokratie sein. Soweit ist es noch nicht.
Sie selber nennen sich in Teilen Faschisten und argumentieren mit dem Judentum. Die Judaisierung des israelischen Nationalismus führt schon seit Längerem zur Dekonstruktion des Judentums, wenn Nationalisten immer mehr Judentum übernehmen, die jüdische Idee vom Humanismus entzweien und die Idee der Demokratie unterwandern. Doch unter dem Faschisten Meir Kahane war seine Partei Opposition – heute verkommt diese Doktrin zur Staatspolitik, die mit dem Angriff auf die Gewaltenteilung durch die gestern beschlossene Justizreform noch getriggert werden könnte.
Die Absurdität eines Diaspora-Ministeriums, dass Jüdinnen und Juden seit Jahrzehnten zu Juden zweiter Klasse machen will, zeigt sich heute mehr denn je. Das fatale Schweigen der «Diapsorajuden» ebenso.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
28. Mär 2025
Die Dekonstruktion des Judentums
Yves Kugelmann