das jüdische logbuch 14. Nov 2025

Deja-vu am Hudson

New York, November 2025. Der Central Park strahlt im Herbstlicht. Die gefallenen Blätter verwandeln im Park Wiesen und Strassen in eine goldene Fläche. Wenige Tage nach der Wahl des neuen Bürgermeisters Zohran Mamdani ist von den heftigen medialen Kontroversen über seine Haltung zu Juden und Israel nicht mehr viel zu spüren. Ist er eine Gefahr für New Yorks Juden, ist seine Israel-Haltung antisemitisch? Die Meinungen bleiben geteilt. New York bleibt die jüdische Hauptstadt. Doch seit der Pandemie hat sich die jüdische Population von 1,2 Millionen auf 800 000 verringert. Viele hatten damals die Stadt verlassen und sind nicht mehr zurückgekehrt oder haben nur noch Zweitwohnsitz. Die Demographie wandelt sich. Die Satmarer und die Bobover machen den Hauptteil unter den Chassidim in New York aus. Sie lehnen den säkularen jüdischen Staat weitgehend ab, anders als die drittgrösste Gruppe Chabad. Im Kontext der Bürgermeisterwahlen ist das durchaus relevant. Mamdani hatte wesentliche Unterstützung aus chassidischen und sehr liberalen jüdischen Wählerschaften, was er zugleich dem skandalumwobenen Gegenkandidaten Andrew Cuomo zu verdanken hat. Ein Vertreter einer jüdischen Gemeindeorganisation weist darauf hin, dass jüdische Jugendliche und Jungwähler entgegen ihrer Eltern Mamdani bejubeln. Ihnen seien gesellschaftliche und somit amerikanische Anliegen viel wichtiger als Nahost. – Das jüdische New York wandelt sich ebenso wie die Stadt selbst, doch sie bleibt der jüdische Hotspot, was ein Blick alleine ins Kulturangebot der Stadt zeigt: Theater, Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und viele Angebote der jüdischen Gemeindezentren.

An der Madison hat soeben das Breuer Building neu eröffnet. Die Ausstellungsflächen im brutalistischen Bau wurden von den Basler Architekten Herzog & de Meuron renoviert. Zu sehen ist unter anderem die Sammlung des kürzlich verstorbenen Leonard Lauder und einiger anderer jüdischer Sammler. Wäre in New York eine permanente Dauerausstellung der Zürcher Bührle-Sammlung jemals möglich gewesen? Würde in New York ein NS-Kollaborateur, Waffenhändler, ein Mann, der für Zwangsarbeit und eine toxische Kunstsammlung verantwortlich ist, weissgewaschen? Hätte in New York der Milliardär Gracia Anda nicht längst die Gelder für die Provenienzforschung aus privater Tasche bezahlt, anstatt sie der Stadt aufzulasten, um gleichzeitig von der Stiftung die subkutane Drohung zu erhalten, die Sammlung abzuziehen? Vielleicht das Beste, was Zürich passieren könnte – und was New York oder kaum einer anderen Kunststadt in Amerika oder Europa möglich wäre. Indessen strahlt Klimts Porträt von Elisabeth Lederer im Breuer Building. In wenigen Tagen soll es versteigert werden, und man fragt sich, weshalb das Bild nicht in die «Neue Galerie» von Bruder Ronald Lauder mit der bedeutenden Klimt-Sammlung geht.

Im «Tages-Anzeiger» berichtet die Zürcher Historikerin und Filmemacherin Regula Bochsler über neue Untersuchungen zu den «Rattenlinien». Im Zentrum ihrer Recherchen steht auch der KZ-Arzt Josef Mengele, dessen über dreissigjährige Flucht ihn mindestens einmal in die Schweiz führte. 1956 ist ein Aufenthalt in Engelberg belegt; 1961 könnte er erneut in der Schweiz gewesen sein, als seine Frau in Kloten lebte. Bochsler fand Hinweise in Archiven, doch entscheidende Dokumente fehlen – etwa ein verschwundener Polizeirapport der Zürcher Kantonspolizei, die damals dilettantisch überwacht habe. Auch ein bis heute gesperrtes Mengele-Dossier des Bundesarchivs wirft Fragen auf.

Bochsler zeigt, dass die Schweiz eine bedeutende Rolle beim Funktionieren der «Rattenlinien» spielte: Bern war ein zentrales Drehkreuz, über das argentinische Visa für NS-Täter ausgestellt wurden. Auch Mengeles Visum dürfte in Bern gestempelt worden sein. Argentinien betrieb in Bern eine Auswanderungsagentur, die gezielt deutsche Rüstungsspezialisten anwarb. Schweizer Behörden duldeten laut Bochsler das Vorgehen der Schleuser weitgehend – Hauptsache, die Flüchtenden reisten schnell weiter.

Das IKRK vergab damals massenhaft Laissez-passer, die auch von Kriegsverbrechern genutzt wurden – häufig mithilfe gefälschter Dokumente und kirchlicher Empfehlungsschreiben. Bochsler betont jedoch, dass die IKRK-Mitarbeitenden unter enormem Druck standen und oft getäuscht wurden. Ihr Fazit: Die Schweiz spielte eine wichtige, bisher wenig bekannte Doppelrolle – als Transitland und als organisatorisches Zentrum der Fluchtnetzwerke für ehemalige Nazis. Verdrängte Vergangenheit schlägt zurück. Dass in den USA die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg immer noch aktuelles Thema ist, wird Schweizern weiterhin vorgehalten. Aktuell ist es die Debatte um nachrichtenlose Konten argentinischer Juden auf Schweizer Banken. Der Jüdische Weltkongress in New York hat das vor einigen Wochen wieder zum Thema gemacht, und in Gesprächen mit amerikanischen Anwälten wird klar: Da kommt noch was.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann