das jüdische logbuch 12. Mai 2021

Das Trauma der Zukunft

Basel, Mai 2021. Holon, Givatajim, Bat Jam, Ramat Gan, Rishon Lezion getroffen und Raketen im Zentrum Tel Avivs. Seit Saddam Husseins Angriffen mit Scuds von 1991 gab es keine derartigen Zerstörungen mehr in Israels Zentrum. Auf den Strassen in Jerusalem, Yafo, Akko, brennende Autos, immer wieder angezündete Synagogen, Proteste überall. Aufrufe zum Sturm zur Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem. Arabische und jüdische Mobs bekämpfen sich. Tore auf beiden Seiten. Der Bürgerkrieg wird greifbarer. Brennende Israel-Flaggen in Europa, Attacken auf Synagogen in Deutschland und anderswo. Die Eskalation wird spürbarer. Dann seit Dienstag die Eskalationssteigerung. Bombenalarm in Israel, Sirenen, Bunker. Der Krieg ist zurück. Millionen Israeli müssen in Schutzräume, während die Bilder des apokalyptisches Raketenspiels über Tel Avivs Himmel um die Welt gehen. Israels Abwehrsystem Iron Dome wehrt inzwischen Tausende von Raketen ab. Ein unwirkliches und lebensrettendes Himmelballet. Doch unten in den Kellern beginnt das Trauma. Wieder eine neue Generation von Kindern flüchtet unter Stress und Furcht in die Schutzräume. Sie erleben die eigenen Eltern in Angst, werden mitten in der Nacht wieder und wieder in die Schutzräume gebracht. Kurz darauf sind es die palästinensischen Kinder, die vor Israels Gegenschlag flüchten, Schutz suchen und den Krieg nochmals ganz anders erleben. Wieder eine neue Generation von Kindern, die mit Krieg, Bomben, Angst aufwächst. Wieder eine Generation von Kindern, die Opfer von Gewalt, Traumata und später Propaganda werden. Wieder eine Generation von Kindern, deren Eltern es nicht geschafft haben, den endlosen Konflikt am Verhandlungstisch auszutragen. Wieder eine Generation von Kindern, die mit Feinden statt Freunden aufwächst. Wieder eine Generation, die Opfer eines Totalversagens politischer Eliten und ideologischer Selbstsucht wird. Wieder eine Generation, die noch lange die Traumata der Vergangenheit abarbeiten anstatt die Zukunft in Freiheit gestalten wird. Wer das nicht wollte, hätte längst Lösungen gefunden. In diesem Konflikt gibt es nur noch Schuldige – die Erwachsenen.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann