das jüdische logbuch 19. Jan 2024

Das Stigma des Unsichtbaren

Brüssel-Antwerpen, Januar 2024. Das grosse Wahljahr steht bevor, in der Europäischen Union ebenso wie in Russland, Indien, USA und anderswo. Taiwan machte letzte Woche den Anfang. Die gläsernen Gebäude der Brüssler Bürokratie leuchten in der Wintersonne. Es ist eiskalt, kaum Menschen auf der Strasse. Anders beim Besuch des Quartiers Moolenbeek, in den Schlagzeilen seit den Attentaten in Paris, seither immer wieder als Brutstätte von Terroristen. Die Strassen sind bevölkert, das Bild divers. Nach dem 7. Oktober tobt wieder eine Debatte in Belgien, ob Teile der Migranten tickende Zeitbomben, Schläfer und so fort seien. Der Blick in die Gesichter der Menschen auf der Strasse mit solchen Gedanken ist ein anderer. Das Quartier hat sich geändert, sollte vom Problemhotspot wegkommen. Doch was ist mit den Menschen? Die Eskalation mit Antisemitismus und Hetze gegen Israel in den Strassen ist abgeflaut. Zivilgesellschaftliche Projekte von Juden und Muslimen versuchen mit Aufklärungs- und Dialogprojekten dem gesellschaftlichen Unfrieden einzuwirken. Im jüdischen Viertel in Antwerpen hat sich das Strassenbild nicht geändert. Die vorwiegend orthodoxen jüdischen Familien ziehen durch die Strassen, die Kinder kurven mit Rollern und Fahrrädern durch das Quartier. Die vielen jüdischen Kaffees und Restaurants sind Teil der Vielfalt mit persischen, türkischen, orientalischen Restaurants. Doch trügt der Anblick, ist die Ruhe trügerisch? Die einen sehen es in den Gesprächen so, die anderen so. Über 20 000 Juden leben in Antwerpen mit seinen 35 Synagogen, zehn jüdische Schulen und vielem mehr. Die Konfliktstränge aus der Netflix-Familiensage «Rough Diamonds» über das jüdische Diamantenviertel schweben vielleicht über allem. Ist ein friedliches Zusammenleben von Menschen mit verschiedensten Kulturen, Ethnien, Religionen, Herkünften noch möglicher als jemals zuvor, oder gilt das Gegenteil? Werden rechtsextreme Parteien in Europa, die Migrationsdebatten, die sozialen und ökonomischen Herausforderungen Europas Gesellschaften in die Vergangenheit zurückkatapultieren? Die einen meinen Ja, die anderen Nein. Das Superwahljahr 2024 wird weltweit Weichenstellungen bedeuten. Der Countdown läuft.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann