Locarno, August 2024. Faschisten führten schon immer das Volk im Munde, das ihnen weit weniger wichtig war als die Ideologie, das Endziel, das sie erreichen wollten. In Israel brachte Meir Kahane den Faschismus in den 1970er Jahren ins Parlament. Er legte die Lunte, die heute mit den Ministern Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich Feuer gefangen hat und Israel noch gefährlicher werden kann als jede äussere Bedrohung. Als sich Netanyahus rechtsextreme Regierung bereits ankündigte, sagte der damalige Diasporaminister Nachman Shai anlässlich seines Besuchs zum 120. Jubiläum des ersten Zionistenkongresses in Basel im tachles-Gespräch: «Persönlich werde ich unter allen Umständen in Israel bleiben. Und für die liberalen Werte weiterkämpfen, für Israel, also den jüdischen demokratischen Staat. Wenn er das nicht mehr ist, ist es zwar nicht mehr das Israel, das ich liebe und in dem ich leben möchte. Aber das wäre umso mehr ein Grund, bis zu meinem letzten Tag auf dieser Welt dafür zu kämpfen, dass meine acht Grosskinder in einem jüdischen demokratischen Staat werden leben können.» Inzwischen haben sich viele liberale Israeli auf den Weg gemacht und verlassen Israel. Das Narrativ der Juden, die sich wehrlos zur Schlachtbank haben führen lassen, haben zionistische Jabotinskys und Hardliner noch vor der Gründung Israels den Schoah-Flüchtlingen entgegengeworfen, als sie auf den Schiffen an der Küste Haifas um Einlass flehten – das sollte sich fatal durchsetzen. Das Narrativ von den schwachen Juden ausserhalb Israels haben jene selbst übernommen, «Diaspora-Jude» wurde zum Schimpfbegriff und das schlechte Gewissen unter Jüdinnen und Juden Jahrzehnte lang bewirtschaftet. Dass sich Juden ausserhalb Israels diesem Diktum unterworfen und ein asymmetrisches Verhältnis zugelassen haben, spricht Bände und schadet Israel in seiner Selbstverkennung. Die Diaspora-Juden hätten viel früher, viel stärker jene demokratischen, rechtsstaatlichen und ethischen Werte in Israel einfordern müssen, die nach der Schoah in Demokratien langsam, aber sicher jüdisches Leben möglich machten. Smotrichs Äusserungen über jüdische Geiseln, Deportationsaufruf von Palästinensern, Ben-Gvirs Tempelberg-Besuch und Tötungsphantasien haben viel zu spät Reaktionen etwa des Jüdischen Weltkongresses, des Europäischen Jüdischen Kongresses oder von Mitgliedsverbänden nach sich gezogen. Dass der Schweizerische Israelitische Gemeindebund bis heute den Partnerverbänden mit der Kritik an Smotrichs faschistischem Rassismus nicht gefolgt ist, zeigt, wie das selbst gewählte Duckmäusertum vor allem eines opfert: die Glaubwürdigkeit. Phrasen von bezahlten Funktionären dekonstruieren die Idee jüdischer Freiheit permanent. Der Erfolg von Israels Propaganda der letzten Jahre hat einen Keil zwischen Juden und Juden, Juden und Israeli geworfen, der seit dem 7. Oktober durch den Hamas-Terror noch verstärkt worden ist und gerade in der Bedrohung Israels in diesen Tagen viele Jüdinnen und Juden eine Solidarität abfordert, die sie längst beiseite gelegt hatten. Die Lämmer waren nie solche. Die Jüdinnen und Juden ausserhalb Israels, waren und sind wichtiger als Israel sich jemals eingestehen würde, sie waren und sind zur grossen Mehrheit mit vielen Israeli ein untrennbarer Fels in der Brandung auch dort, wo die Zugänge unterschiedlich sind. Die schweigenden Lämmer sind jene, die Israel gezüchtet hat und die teilhaben am moralischen Zerfall des Landes – lange vor dem 7. Oktober, auf den all dies letztlich mit hingeführt und viele Paradoxien ermöglicht hat. In der freien, offenen Welt braucht es keinen Pass oder Hechscher, nicht mal Rückgrat, um jene Werte einzufordern, die Koexistenz, Gleichberechtigung, Religions- und Kulturfrieden möglich machen, sondern Verstand oder allenfalls auch jüdische Kompetenz. Wer Freiheit verteidigen möchte, sollte dies nicht mit den Mitteln der Feinde tun. Israels Faschisten haben rote Linien längst überschritten und bedrohen Israel in seiner grössten Krise, im Angesicht der eliminatorischen Ideologien und Drohungen seiner Feinde. Ihr Nationalismus schliesst darüber hinaus Jüdinnen und Juden aus, mit denen sie ständig übergriffige Politik machen, um sie im gleichen Atemzug zu diskreditieren. Der nicht geführte Diskurs ausserhalb Israels der letzten Jahre über Israel zeigt sich jetzt in einer Separation und Verhärtung in jüdischen Gemeinden, Gesellschaften und Familien. Die Stärke der Freiheit ist das offene Wort, das in unfreien Gesellschaften als grösste Bedrohung der Despoten betrachtet wird.
Oder wie Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel sagte: «Wer schweigt, macht sich zum Komplizen.»
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Das jüdische Logbuch
16. Aug 2024
Das Schweigen der Lämmer
Yves Kugelmann