Das Jüdische Logbuch 20. Dez 2019

Das Prinzip Zachanassian

Basel, Dezember 2019. Ein reicher Milliardär kommt in die verarmte jüdische Gemeinde Güllen. Verarmte Provinz, einst Zentrum jüdischen Lebens in Europa. Er will keine Rache, keinen Mord für die zerstörte Kindheit, wie es Claire Zachanassian in Friedrich Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» einfordert. Der jüdische Milliardär will eine Synagoge und spaltet die Gemeinde. Er möchte sie kaufen. Nicht das Haus, nur den Namen. Und auf einmal sind sie da! Diese Dinge eben. Der Rabbiner votiert dafür, andere dagegen. Soll die Gemeinde ihre Seele, ihre Tradition, ihren «Minhag hamakom» (den örtlichen Ritus) verkaufen? Bei Dürrenmatt nimmt die Dynamik ihren Lauf: Rasch bestellt der Bürgermeister ein neues Rathaus, der Pfarrer schon die neuen Glocken für die Kirche. Da ist es wieder: Politik und religiöse Obrigkeit spannen zusammen unter dem Primat des Geldes. Alfred Ill bei Dürrenmatt retten? Die Integrität der Gemeinschaft oder der Synagoge wahren? In der jüdischen Gemeinde von Güllen geht es um den Namen der Synagoge. Namen sind das Heilige im Judentum. 1,5 Millionen Schweizerfranken für einen Namen. Irgendwie für die Auslöschung einer Historie – mögen destruktive Zungen denken. Die Funktionäre der jüdischen Gemeinde von Güllen geben den Namen des Milliardärs nicht preis. Sie verhandeln geheim. In der Gemeinde beginnen die Spekulationen und die vermeidbare «Laschon hara» nimmt ihren Lauf: Ist es eine Bank? Schwarzgeld? Ist es jener mit diesem oder jene mit dem anderen Grund? Ist es Gesinnungskorruption? Wo darf Geld stärker als alles andere wiegen? – Es ist die Geschichte, wie sie allenthalben überall geschieht und ethische Fragen aufwirft so wie in einem anderen Güllen. Dort stehen die gekauften Häuser seit Jahren leer. Das schöne Grand Hotel, die wunderbaren Häuser an der Hauptstrasse. Über Jahre hat sie ein Immobilienunternehmer zusammengekauft – um sie leer stehen zu lassen. Als Kind im Zweiten Weltkrieg wurde der heutige Immobilienmogul mit dem Zug deportiert. In diesem Güllen wurde er als Kind angespuckt und von der Bevölkerung beschrien, als der Zug haltmachte. Seine Rache war die Entkernung. Ein Dorf im Leerstand, ohne Seele, aber mit viel Geld für leere Häuser. – Die verkaufte Synagoge kann durchaus zum probablen Geschäftsmodell werden. Eine Immobilie eben. Da ist es wieder: das Zachanassian-Prinzip. Am Schluss werden sie alle entlavt – ebenso wie die Sache selbst.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann