Nizza, Dezember 2023. Auf der Promenade des Anglais blicken die Menschen auf das Denkmal des Terrorakts vom 14. Juli 2016. Das türkisblaue Meer, der wolkenfreie Himmel stehen im Kontrast zu dunklen Stunden des Terrors weltweit, die in Israel nun eine unermessliche Steigerung erfahren haben. An blauen Stühlen erinnern Plakate an die israelischen Geiseln in Gaza. Weltweit erinnert die jüdische Gesellschaft täglich mit Mahnwachen und Manifestationen an das Schicksal der Geiseln mit Unterstützung der Angehörigen. Doch Geiselnahmen bedeuten neben Leid, Folter, Angst oft ein langsames Sterben. Die Geiselnahmen des 7. Oktober haben die amtierende Regierung Israels vollends demaskiert. Sie hat die formulierte Rache vor alles gestellt, ist dem Hamas-Drehbuch Wendung für Wendung gefolgt, hat Angehörige und Geiseln schändlichst frappiert. Seit dem letzten Wochenende mit der tragischen Tötung von israelischen Geiseln durch Israels Armee sind wiederum Tausende trotz Krieg gegen die Regierung auf der Strasse. Denn die Beweise liegen auf dem Tisch, dass diese Regierung der Hamas beim Angriff nichts entgegensetzen wollte und Verhandlungen zur Geiselrückgabe ideologisch unterwanderte. Der Krieg gegen Gaza hat bis heute keine einzige lebende Geisel zurückgebracht, ein ziviles Drama und eine regelrechte Kaskade von artikuliertem Antisemitismus weltweit ausgelöst. Für den Antisemitismus kann die Regierung nichts, für die Art der Eskalationen hingegen sehr viel und für die Missachtung diplomatischer Möglichkeiten noch mehr. Geiselnahmen stellen Verantwortliche immer vor ein unerträgliches ethisches Dilemma. Doch was, wenn eine Regierung sich dem Dilemma gar nicht erst stellt? Der Bruch Israels mit der einst so hoch gehaltenen ethischen Prämisse für den Einsatz eines jeden Menschlebens steht fortan zwischen ihr, den Bürgerinnen und Bürgern Israels und der jüdischen Gemeinschaft weltweit und hat vieles im jüdisch-israelischen Koordinatensystem über den Haufen geworfen, wie es sich in den Monaten vor dem Hamas-Angriff schon abgezeichnet hat. – Alle wissen das. Nur einer will es nicht hören.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
22. Dez 2023
Das ethische Dilemma und der Verrat
Yves Kugelmann