Paris, im März 2024. Vor dem UNESCO-Gebäude wehen die Flaggen der Nationen an diesem windigen Vorfrühlingstag. Welche sind nun Flaggen des Friedens, befreundeter Nationen, einstiger oder zukunfütiger Feinde? Das Prinzip Amalek ist so alt wie das Judentum. Es bezeichnet den ultimativen Feind, geht in der biblischen Erbfolge auf Esau zurück, kehrt beim Hinterhalt beim Auszug aus Ägypten und dann im Perserreich in der Purimgeschichte in der Figur Hamans wieder. Amalek ist nicht nur Teil der jüdischen Liturgie geworden, wie etwa am Schabbat «Sachor» («Gedenken») vor und an Purim. Amalek steht für das Böse, für jene, die die Juden vernichten wollen von Haman bis Hitler oder jüngst die Hamas. Amalek ist immer wieder mal Symbol, um dann Realität zu sein. Amalek steht aber auch für eine abstruse und fatalistische Selbstdefinition unter Jüdinnen und Juden, die die Feinde zum Mass aller Dinge machen. Das philosophische Prinzip einer Ausrichtung, Abhängigkeit und letztlich Intonation der eigenen Geschichte durch die realen, vermeintlichen und mythologischen Feinde hat über die Jahrhunderte eine Kultur einer ungesunden Referenz-Dialektik etabliert bis tief ins säkulare Judentum hinein. Wer sich über das Böse definiert, ohne es zum eigenen Ausgangspunkt zu nehmen, kommt davon nicht los. Wer das Böse zum absoluten Mass der Möglichkeiten macht, wer das mythologische Ägypten zum genozidalen Ausgangspunkt, Auschwitz zur berechtigten Urangst oder die Hamas-Massaker des 7. Oktober zum Rahmen der jüdischen Existenz macht, unterwirft sich ihr über die Wichtigkeit der zugelassenen Angst der gelebten Gegenwart hinaus. Der Rahmen wird zum existentiellen Überbau und die Feinde von omnipräsenter Allegorie zur psychorelevanten Wirklichkeit. Naiv, wer sich mit ihnen nicht befasst, wer keine Sicherheitsarchitektur mitdenkt. Gefangen, wer Amalek zum Lebensprinzip macht. Die jüdische Gemeinschaft befindet sich gerade in diesen Tagen in diesem Spannungsfeld von Zuwendung zum amalekitischen Prinzip und der Furcht davor, sich ihm zu unterwerfen. Zwischen Pogrom-Fantasien und Freiheitswünschen gibt es allerdings eine Realität, die sich von der Idee Amaleks im Zuge von Emanzipation längst hätte verabschieden sollen. Ein Judentum, das sich von Amalek verabschiedet, den ewigen Feind selbst dann überwunden hat, wenn er irgendwo wieder auftauchen sollte, findet unter anderen Vorzeichen und nicht nach dem Hiob-, sondern dem Prinzip Jaels, Davids oder eben Herzls statt, die Amalek nicht als Ausgangspunkt, sondern als Vergangenheit betrachten, das auf den Stufen der Erkenntnis hinter sich gelassen werden kann. Amalek hat Juden zum ab- und ausgegrenzten Fremden, zur Nation ohne Land gemacht unter Verkennung der Tatsache, dass die nomadische Fluidität sich von Amalek verabschiedet hatte, noch bevor es erfunden und dann so intensiv geformt wurde. Nein, die Juden sind nicht verantwortlich für Antisemitismus. Sie sind aber verantwortlich, wenn sie sich ihm unterordnen und ihn zum Kern von Alltag und Politik machen – auch in der Angst vor ihm. Amalek ist der falsche Golem und das falsche Gegenkonzept zur absurden Idee jeglicher Erlösungstheologie. Doch wie sagt doch die junge widerspenstige Chani aus dem Stamm der «Fremen» im zweiten Teil der Dune-Saga als entlarvende Kritik: «Willst du Menschen kontrollieren, dann muss du ihnen sagen, der Messias kommt, und sie folgen dir für Jahrhunderte.» Die Versklavung von Menschen mit Mythen, die irgendwann in Erfüllung gelangen, ist gefährlich und sollte die jüdische Gemeinschaft gerade an Purim daran erinnern, wie Esther die Freiheit zum Ausgangspunkt der Zukunft nahm und Amalek für immer und ewig vernichtete, nicht damit der Mythos immer wiederkehren sollte. Alles andere wird zur Paranoia – selbst wenn sie gut begründet ist.
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
das jüdische logbuch
22. Mär 2024
Amalek gibt es nicht
Yves Kugelmann