das jüdische logbuch 13. Sep 2024

Am Kai des Widerstands

Hamburg, September 2024. Die Elbe liegt tief. Am Horizont bewegen sich Stückgutkrane auf den Kaimauern und löschen die Schiffsladungen im Hamburger Hafen. Aus der Ferne sind die rhythmischen Geräusche von aufschlagendem Eisen zu hören und das Raunen der Fahrwerke. Alles wirkt zeitlos – könnte heute oder vor 100 Jahren gewesen sein, als die kommunistischen Werftarbeiter harte Arbeit, später Widerstand gegen Hitler verrichteten und dafür in den Tod gingen. Hamburgs rebellische Adern des Widerstands blitzen immer mal wieder hervor, wenn man genau hinschaut. In der Republik toben nach den Wahlen in den östlichen Bundesländern Debatten um Migration, Ausschaffung von kriminellen Asylanten und die Frage nach Sicherheit. Der Comedian Luke Mockridge verhöhnt Behindertensportler im Podcast «Deutschland», seine Sendung und seine Auftritte werden abgesetzt, die Podcast-Hosts Nizar Akremi und Shayan Garcia wiederum schweigen tagelang und entblössen sich dann mit peinlichen Statements. Ihr Antisemitismus hat jeweils nicht für Empörung gesorgt (tachles online bereichtete). Und in der Schweiz schiesst die GLP-Politikerin Sanija Ameti auf Jesus und Maria – und entfacht einen Sturm an Empörung. Wo endet Provokation, Humor, Freiheit? Sanija Ameti war eine der ersten Musliminnen, die im Nachgang zum 7. Oktober öffentlich Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft zeigten (tachles berichtete). An einer Kundgebung trat sie mit einem Plakat mit der Aufschrift «Juden und Muslime gegen Hass» auf, verstört nun mit einer vollends unnötigen Aktion in ohnehin aufgeladenen Zeiten im Nachgang zu bewaffneten radikalisierten Islamisten und riskiert ihre eigene politische Karriere. In München wird die Direktorin Mirjam Zadoff des NS-Dokumentationszentrums nach dem Anschlagsversuch eines Islamisten von voriger Woche im Netz massiv bedroht und verunglimpft. Die Dynamik, Geschwindigkeit und Verrohung der Diskurse wäre ohne das Netz nicht denkbar. Die digitale Welt bedroht die reale. Konspiration, Radikalisierung, Aufruf und Anleitung zu Mord und Totschlag bedrohen die freie Gesellschaft. Ethik, Verantwortung und Vernunft werden verdrängt, die Gesetzgebung hat längst kapituliert und niemand findet Wege gegen die vorsätzliche Verrohung. Wo beginnt Widerstand heute? Und wer steht heute dafür? Hamburgs Schriftsteller Wolfgang Borchert fasste die Ambivalenz so zusammen: «Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind – für Dorsch und Stint, für jedes Boot – und bin doch selbst ein Schiff in Not!»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann