Das Jüdische bei Thomas Mann wurde vielfach untersucht – aus Anlass seines150. Geburtstags lohnt sich nochmals ein Blick darauf
«The Jewishness of Mr. Bloom», betitelt Wolfgang Hildesheimer seinen Vortrag zu James Joyces Bloomsday, den Hildesheimer selbst mit «Das Jüdische an Mr. Bloom» übersetzte. Dass die Figur des Leopold Bloom in Ulysses von James Joyce, dem Wolfgang Hildesheimer in seinem Aufsatz nachspürt, Joyce’s Freund Italo Svevo (geboren Ettore Schmitz), wenn nicht gleich porträtiert, so doch ihm zumindest nachempfunden ist, ist bekannt. Dass der deutschstämmige Jude Italo Svevo die italienische Katholikin Livia Veneziani – ihrerseits Vorbild für Joyces Anna Livia Plurabella – 1896 heiratete und später aus Anlass der Geburt der Tochter Laetitia zum katholischen Glauben übertrat, darf angefügt werden.
«Das Jüdische bei Thomas Mann» – wenn auch, aber eben nur – in Anlehnung an Wolfgang Hildesheimer «The Jewishness of Mr. Bloom», dies ist – mit Fontane zu sprechen – ein weites Feld. Der Lübecker Patriziersohn protestantischer Konfession heiratete 1905 Katia Pringsheim, eine Jüdin, die aus einem wohl zu dieser Zeit nicht nur sehr bürgerlich kultivierten, sondern auch akkulturierten bis assimilierten Elternhaus stammte. Das Judentum der Familie Pringsheim spielt nicht nur im «täglichen Leben» keinerlei Rolle. Allerdings, und das kommt bekanntlich in Gesprächen Alfred Pringsheims mit seinem Schwiegersohn durchaus zum Ausdruck, verleugnet Pringsheim seine Herkunft nicht. Der noch einige Jahre zuvor notwendige Übertritt zum christlichen Glauben als «Entréebillet» in die Gesellschaft scheint keiner Diskussion mehr wert, und ein Religionsübertritt der Eheleute in welche Richtung auch immer wird nicht ernsthaft erwogen. Es scheint – wie so manches in dieser Beziehung – einfach kein Thema zu sein.
Drei Bereiche wären wohl im Zusammenhang mit dem Jüdischen bei Thomas Mann – wie auch oft bei anderen Schriftstellern und Zeitgenossen – zu unterscheiden: die Darstellung jüdischer Protagonisten in seinem Werk, der familiäre Hintergrund seiner Frau Katia und damit, spätestens nach 1933, derjenige seiner ganzen Familie und seine persönlichen Beziehungen über die Familie hinaus.
Kritik von Klüger und Améry
Dem ersten Bereich könnten inzwischen kaum mehr zähl- und auch lesbare Darstellungen gewidmet sein, dem zweiten und dritten gelten zwar wohl ähnlich viele, aber nicht – und das vielleicht zu Recht – primär unter dem Aspekt des «Jüdischen». Letztlich aber ist – nicht nur bei einem Schriftsteller – das eine vom anderen nicht zu trennen und schon gar nicht bei Thomas Mann, bei welchem wohl wesentlich mehr aus seinem Alltag in die literarische Darstellung Eingang gefunden hat, wie wir (heute) wissen oder trotz aller akribischer Untersuchungen je werden wissen können, wissen wollen oder eben nur «durch Zufall oder Fügung» in Erfahrung bringen werden.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die verschiedenen literarischen Figuren in dem Werk Thomas Manns, die unzweideutig oder eben eindeutig als Juden konnotiert sind, vor antisemitischen Stereotypien vor und nach 1933 nicht «verschont» geblieben sind.
Ruth Klüger hat mit Jean Améry – auf ihn wird gleich zurückzukommen sein – wohl zu diesem Umstand und Thema nicht zuletzt aus eigener Betroffenheit Gültiges gesagt. In ihrem Aufsatz «Thomas Manns jüdische Gestalten» hält sie zum Ende fest: «Thomas Manns Werke widersprechen einander gründlich in ihren Darstellungen von Juden. Gerade ihrer Paradoxien halber sind sie vielleicht die einschlägigste, wenn auch die frustrierendste, literarische Einzelquelle für das Verständnis und Missverständnis, die Faszination und den Hass, die Deutsche in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts dieser Minderheit in ihrem Land entgegenbrachten.»
NS-Ungeistigkeit
Zum Ausdruck kommt dieser Zwiespalt in einem Vergleich, in welchem Jean Améry in seinem Aufsatz «Politik des Gewissens so und so» Hermann Hesses politische Schriften und Manns Tagebücher miteinander in Beziehung setzt und im Zusammenhang mit der sogenannten Schwarzschild-Korrodi-Affäre unter anderem auch den im Falle Hesses viel weniger als im Falle Manns wahrgenommenen «Lebensumstand» festhaltend schreibt: «Die Ähnlichkeit der Geschicke war markiert durch zweierlei Lebensfakten: Sowohl der aus Calw in Schwaben stammende Schweizer Hesse wie auch der lübische Kaufherrensohn hatten Jüdinnen zu Ehefrauen (...). Gegen den Antisemitismus, der meiner festen Überzeugung nach kein Akzidens der NS-Ungeistigkeit war, vielmehr dessen tiefinnere Essenz, waren sie also beide gefeit: Hesse ganz offensichtlich sogar besser als Thomas Mann. Bei Hesse kann man in einem Brief an eben jenen nazistisch infizierten (Eduard) Korrodi lesen, dass er sich unter gar keinen Umständen zum Antisemitismus werde bekehren lassen. Er könne, so schreibt er, recht wohl einen Judenwitz vertragen, wenn es dieser Volksgruppe gut gehe, gehe es ihr aber schlecht – und ausdrücklich fügt er bei, es gehe ihr in Hitlerdeutschland höllisch schlecht –, verweigere er sich jeder judenkritischen Anfechtung. Thomas Mann dagegen hatte bis zum Ende ein problematisches Verhältnis zu dem Geblüt, dem seine Frau und infolgedessen auch seine Kinder entstammten. In seinem Tagebuch spricht er recht unangenehm von Kerr, der sich an Nietzsche ‹herangemauschelt› habe. Er findet auch kein Wort des Mitleidens für den von den Nazis gemeuchelten Theodor Lessing, notiert sogar, dass die ‹Entjudung› der deutschen Justiz am Ende so schlimm nicht sei (…).»
Allerdings erkennen wir aus Hesses Schriften und Manns nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Tagebüchern, dass der, welcher einst die «Betrachtungen eines Unpolitischen» geschrieben hatte, von Grund auf ein politischer Autor war, während im Gegensatz zu ihm Hermann Hesse die andrängenden Fragen der historischen Realität als solche kaum zur Kenntnis nimmt, vielmehr alle abdrängt in den Bereich des Ethischen und Religiösen.
«Sieben Manifeste zur jüdischen Frage»
1966 veröffentlichte der Doyen der Exilliteraturforschung Walter A. Berendsohn die schmale Schrift «Sieben Manifeste zur jüdischen Frage», die von Thomas Mann in den Jahren zwischen 1936 und 1948 aus verschiedenen Anlässen geschrieben und an ebenso unterschiedlichen Orten publiziert wurde. Wie Berendsohn in einer Nachbemerkung festhält: «Es ist durchaus verständlich, dass Thomas Mann nicht alle diese Manifeste in sein literarisch geformtes Werk aufgenommen hat, aber zur Charakteristik seiner Persönlichkeit sind diese menschlichen Dokumente unentbehrlich.»
Von besonderem Interesse an dieser Schrift sind vor allem zwei «Auslassungen»: Die eine wird vom Herausgeber begründet, die andere nicht erwähnt, weil sie ihm wohl zu diesem Zeitpunkt – obwohl publiziert – nicht bekannt gewesen war. Dennoch scheint sie beziehungsweise der Umstand, dass eine Publikation zur Zeit der Entstehung zunächst unterblieb, für die Zeit vor 1930 ein Schlüssel für das Verständnis von Thomas Manns Verhältnis zum Judentum, zu Juden, zum Jüdischen zu sein.
1921 veröffentlichte der Herausgeber der Münchner Zeitschrift «Merkur» Efraim Frisch verschiedene Beiträge zur «jüdischen Frage», wofür er unter anderem auch Thomas Mann um einen Beitrag bat. Der Beitrag löste bei dem vor Pogromen im Osteuropa nach Westen geflohenen Efraim Frisch und dessen redaktionell mitbeteiligter Frau Fega Unverständnis und Irritation aus, da er, mit leichter Hand geschrieben, die bereits sichtbaren Zeichen der damaligen Zeit nicht zu erkennen schien. Zunächst bemühte sich Thomas Mann, dem «falschen Zungenschlag» durch Weglassung beziehungsweise neue Einleitung «beizukommen» – zuletzt unterblieb die Publikation und wurde erst Mitte der 1960er-Jahre von Kurt Loewenstein zugänglich gemacht und aus dem Nachlass des damals redaktionell ebenfalls mitbeteiligten Alfred Vagts ergänzt.
«Es scheint mir anständig, mich zur Rede gestellt über das jüdische Problem, durch keinerlei ‹grosse Gesichtspunkte›, weder durch geistige Umwälzung wie den Untergang des Liberalismus, noch durch verantwortungsvolle Erwägungen philosophisch-politischer, rassenbiologischer oder ähnlicher Art verwirren zu lassen, sondern mich an die Tatsachen meines Lebens zu halten, die judenfreundlich sind, wie es die Lebenstatsachen jedes Menschen, der auf nicht ganz gang und gäbe Art durch die Welt zu kommen geboren ist, nach redlicher Aussage immer sein werde. Ich denke zurück – schon meine frühesten Erinnerungen in Richtung auf das Phänomen des jüdischen Mitmenschen sind freundlich. Es waren da Schulkameraden (...), kam vortrefflich mit ihnen aus, bevorzugte wohl ihren Umgang, instinktweise und ohne es mir bemerklich zu machen. In Quarta sass neben mir eine Weile ein Knäbchen Carlebach, Rabbinerssöhnchen, quick, wenn auch eben sehr reinlich nicht, dessen grosse kluge schwarze Augen mich freuten und bei dem ich den Haar-Anwuchs hübscher fand als bei uns anderen, die wir nicht nach der Biblischen Geschichtsstunde in die Klasse kamen. Auch hiess er Ephraim, ein Name erfüllt von der Wüstenpoesie eben jener Stunde, von der seine Besonderheit ausgeschlossen war oder sich ausschloss, markanter und farbiger, wie mir schien als Hans oder Jürgen. Was ich aber dem kleinen Ephraim namentlich nicht vergesse, war die unglaubliche Geschicklichkeit, mit der er mir beim Verhör einzublasen verstand, seinerseits aus dem Buche lesend, das er hinter dem Rücken seines Vordermannes aufgeschlagen hatte.»
Besondere Genugtuung
Dies ist, wenn auch erst zu Beginn der 1920er Jahre niedergeschrieben, wohl jenes früheste Zeugnis für Thomas Manns Begegnung mit einem Juden, seinem Mitschüler Ephraim Carlebach, Sohn des damaligen Lübecker Rabbiners. Thomas Mann ist wohl «auf nicht ganz gang und gäbe Art durch die Welt zu kommen geboren» und – zumal einige Jahrzehnte später unter weit bedrohlicheren Umständen – «nach redlicher Aussage immer judenfreundlich» geblieben.
Warum aber sollte gerade dieser, in ersterem Falle von Thomas Mann letztendlich zurückgezogene und erst aus dem Nachlass publizierte Beitrag, oder etwa die wohl in diesem Zusammenhang immer wieder herangezogene Darstellung von Oskar Goldberg in der Figur des Chaim Braisacher im «Doktor Faustus» – einer, um mich zurückhaltend auszudrücken, zweifellos komplexen und nicht einfachen Persönlichkeit – so viel mehr Gewicht erhalten, um den fortdauernden Antisemitismusvorwurf an Thomas Mann immer wieder von neuem zu «untermauern» – als etwa jene «Sieben Manifeste zur jüdischen Frage»? Jenes erste entstand in der Emigration in Zürich und diente als Vorrede zu einer Lesung aus dem dritten Band des Joseph Roman im März 1937 im zionistischen Verein Kadima, wo es vorgetragen wurde: «Erlauben sie mir für den Anfang, dem Vergnügen Ausdruck zu geben, mit dem ich der Einladung des Clubs ‹Kadimah› gefolgt bin, seinen Mitgliedern einen Vortrag aus meinem Werk und auch über das Werk zu halten; der besonderen Genugtuung, die es mir bereitet, gerade heute einmal vor einem ausschliesslich oder doch ganz überwiegend israelitischen Publikum zu sprechen. Ich sage: gerade heute: denn früher wäre mir die Situation wohl nicht so eindrucksvoll gewesen, ich hätte sie mir wahrscheinlich weniger bewusst gemacht. Heute gewinnt diese Situation etwas Demonstratives, sie nimmt den Charakter an einer Gesinnungskundgebung, eines Eintretens für vielfach bedrohte und zügellos missachtete ideelle Güter, an denen teilzunehmen, denen Treue zu halten wir Menschen christlichen, oder ‹arischen› oder einfach nicht jüdischen Geblütes keineswegs den Juden allein überlassen sollten. Ich wenigstens bin nicht bereit, das zu tun, denn es handelt sich ganz einfach um Freiheit und Menschlichkeit – in ihrer Gefährdung durch eine Zeit, der man viel verzeihen muss, denn es geht ihr schlecht, und Not verdirbt den Charakter. Aber verstehen und verzeihen heisst nicht kondescendieren, er heisst nicht mittun und mitsündigen, es ist vielmehr nur unter der Bedingung statthaft, dass man den bösartigen und niedrigen Reaktionen der Not und des Leidens widerspricht, ihnen widersteht und standhält – das ist die Aufgabe – oder eine der Aufgaben – des Geistes, der immer mit seiner Zeit leben und leiden, aber auch gegen sie leben und leiden muss, dem immer beschieden ist, zugleich Repräsentant und Kämpfer zu sein.»
An anderem Ort in der gleichen Publikation, nachdem Thomas Mann sein «Nein» gegen das «Gegröhl» eines «Pöbel-Antisemitismus» ausführt: «Der deutsche Antisemitismus aber, als Produkt und Zubehör eines rassischen ‹Pöbel-Mytus› ist mir in der Seele zuwider und verächtlich. Er ist der Not-Aristokratismus kleiner, sehr kleiner Leute. Ich bin zwar nichts, aber ich bin kein Jude: darauf läuft es hinaus. Nicht ‹liberalistische› Allerweltsphilantropie, sondern das einfachste religiöse Gefühl hat mich von je her gehindert, diesem Unwesen das geringste Zugeständnis zu machen. Dieses ‹Nein›, das gewiss kein ‹Ja› zu all und jeder Art von Judentum bedeutet, ist der Ausdruck einer natürlichen und notwendigen Geistesdistinktion, die mit Dünkel nichts zu tun hat, und deren der geistige Mensch sich nicht entäussert, ohne sich selbst zu entehren und das Leben ins Unglück zu stürzen (…). Mein privates Verhältnis zum Judentum ist durch die Tatsache bestimmt, dass ich Zeit meines Lebens unter Juden meine besten Freunde und meine ärgsten Feinde gehabt habe, (woraus persönlich-stimmungsmässig folgt, dass ich am liebsten weder Gutes noch Böses von diesem Geblüt sage).»
Keine gesunde Vernunft
Wohl mit am deutlichsten wird die Veränderung von Manns Verhältnis zur jüdischen Frage anhand seiner Stellung zu seinem Freunde Jakob Wassermann und dessen 1921 publizierter Schrift «Mein Weg als Deutscher und Jude».
Auf die Zusendung des Buches erwiderte Thomas Mann Jakob Wassermann, nachdem er darauf hinwies, dass er schon auf ein früheres Schreiben von Wassermann in diesem Zusammenhang mit «alles Unsinn» geantwortet habe: «Ich möchte Sie nicht kränken, mein Wunsch ist das Gegenteil, aber mein Antrieb, Ihnen zu widersprechen, war oft sehr lebhaft, und auch in diesem Augenblick bezähme ich ihn kaum. Ihr subjektives Erleben nochmals in höchsten und sympathievollen Ehren – aber ist denn das alles wirklich so? Ist nicht doch viel dichterische Hypochondrie im Spiel? Manche Ihrer Klagen beziehen sich auf deutsche Verhältnisse überhaupt (...). Diese Dinge haben ja aber mit Ihrem persönlichen Leben nichts zu tun. Ein nationales Leben, von dem man den Juden auszusperren versucht, in Hinsicht auf welches man ihm Misstrauen bezeigen könnte, gibt es dann das überhaupt. Deutschland zumal, kosmopolitisch wie es ist, alles aufnehmend, alles zu verarbeiten bestrebt (...), sollte es ein Boden sein, worin das Pflänzchen Antisemitismus je tief Wurzeln fassen könnte? Wie ich bin und lebe, muss ich so fragen.»
1935, nach dem Tode Wassermanns, publizierte Marta Karlweis im Amsterdamer Querido-Verlag ein Buch über Jakob Wassermann, zu welchem Thomas Mann ein Vorwort beisteuerte, worin er unter anderem festhält, er hätte 1922 – sein damaliger Brief wie Wassermanns Antwort wurden in diese Ausgabe aufgenommen – Wassermann nicht in seinem Pessimismus bestärken mögen, da Zuversicht für dessen literarische Arbeit unabdingbar gewesen sei, um fortzufahren: «Wie masslos er am Ende aber recht behalten sollte, das ahnten damals er so wenig wie ich – keine gesunde Vernunft konnte es ahnen.»
Die literarische Darstellung der Juden
In der bereits zitierten Ansprache im Verein Kadima kommt Thomas Mann auch auf das Verhältnis der Juden zur deutschen Literatur und Kultur zu sprechen, indem er, zunächst Riemer zitierend, meint: «Auch waren die Gebildeten unter ihnen meist zuvorkommender und nachhaltiger in der Verehrung seiner (Goethes, Anm. Red.) Person, wie seiner Schriften, als viele seiner (eigenen) Glaubensgenossen. Sie zeigen überhaupt in der Regel mehr gefällige Aufmerksamkeit und schmeichelnde Teilnahme als ein National-Deutscher, und ihre schnelle Fassungsgabe, ihr penetranter Verstand, ihr eigentümlicher Witz machen sie zu einem sensibleren Publikum als leider unter den zuweilen etwas langsam und schwer begreifenden Echt- und Nur-Deutschen angetroffen wird». Und Thomas Mann: «Das ist eine hübsche Charakteristik, im Ausdruck manchmal etwas oberflächlich-verfehlt, dann aber auch wieder sehr treffend und vielsagend, wie in der Wendung (vom) ‹sensibleren Publikum› und in der von den ‹Echt- und Nur-Deutschen› (…).» Dabei besteht für mich keine Frage, dass Thomas Mann hier auch von und über sich selbst spricht.
Vielleicht mag 1921 oder auch unmittelbar nach dem Krieg und der Schoah 1945 (also zum Zeitpunkt etwa des erstmaligen Erscheinens des «Doktor Faustus») die negative Darstellung eines Juden nicht gänzlich unproblematisch gewesen sein – aber doch nicht mehr um die Jahrtausendwende Jahrzehnte später. Es muss möglich und erlaubt sein, notabene so differenziert, wie mit Thomas Mann vielleicht nur wenige dazu überhaupt in der Lage sind, einen nicht eben angenehmen (damaligen) Zeitgenossen, der zufällig Jude ist, in seiner ganzen zwiespältigen Erscheinung darzustellen, ohne ein Antisemit zu sein, was nun freilich keinem Freipass gleichkommen soll.
Der erste Stein
Ein unsympathischer Jude bleibt auch in der differenzierten literarischen Darstellung, wie im wirklichen Leben, einfach unsympathisch, und es ist – uns Juden, vor allem sei’s sozusagen ins Stammbuch geschrieben – nichts Antisemitisches daran, einen nicht besonders sympathischen Juden auch nicht sonderlich sympathisch erscheinen zu lassen. Der vor allem um die letzte Jahrtausendwende vernehmbare Vorwurf des Antisemitismus bei Thomas Mann entbehrt wenn nicht jeder Grundlage, so zumindest der differenzierten oder einer differenzierenden Betrachtung. Dazu hat Hermann Kurzke – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – in seiner Biografie Thomas Manns den dazu passenden Satz zitiert: «Wer ohne Fehl, der werfe den ersten Stein.»
So wie die – auch nicht jeder antisemitischen Stereotypie entbehrenden – Werke von Johann Wolfgang Goethe die Bücherschränke eines sich etablierenden jüdischen Bürgertums bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zierten, so taten das jene Thomas Manns spätestens seit den ausgehenden 1920er-Jahren.
Goethe, Fontane, Thomas Mann – die Folge zeigt die Veränderung der Rolle der Juden in der deutschen Geschichte beziehungsweise der Wahrnehmung. Meinte Thomas Mann noch 1944, einige für die Juden ungünstige Sätze aus einem Text Johann Wolfgang Goethes wegzulassen, hat Fontane in seinem Gedicht «Prähistorischer Adel» die Verehrung, die deutsche Juden ihm und seinen Werken in ungeahnt höherem Ausmass entgegenbrachten als die von ihm selbst «adressierten» von Schlieben und Itzenplitze. Dazwischen positioniert meinte Thomas Mann Jakob Wassermann vor seinen «jüdischen Selbstzweifeln» in Schutz nehmen zu sollen. Thomas Manns Auseinandersetzung mit Jakob Wassermanns Schrift von 1921 und sein Vorwort zur Biografie von Jakob Wassermanns Witwe Martha Karlweis von 1935 zeigen ein ganzes Spannungsfeld, eine – wenn auch beileibe und vor dem Hintergrund des noch Folgenden nicht abgeschlossene – Entwicklung auf.
In einem Brief aus dem Jahre 1950 an Hans Mayer erwähnt Thomas Mann jene Werke, die ihn «über seinen Tod hinaus» direkt oder indirekt wohl mit am stärksten mit der «jüdischen Frage» verbinden: «Es ist ja begreiflich, dass das Alters- und Schmerzenswerk Doktor Faustus meinem Herzen nahe geblieben ist und auch die Zeit der Unio Mystica mit ‹dem Stern der schönsten Höhe›, der Arbeit an dem Goethe Roman ist in meiner Erinnerung gute Zeit. Und doch mag es wohl sein, dass die Nachwelt, wenn es eine gibt und wenn sie mein gedenkt, die menschheitliche Heiterkeit der Josephserzählung als das Höchste ansprechen wird, was mir zu erreichen vergönnt war.» l