Nostra Aetate 03. Okt 2025

Vorwärts in die Vergangenheit

Auf einem Archivfoto aus dem Jahr 2016 halten Papst Franziskus und Rabbi Riccardo Di Segni, der Oberrabbiner von Rom, einen Kodex mit fünf Seiten jüdischer Bibelkommentare in der Hauptsynagoge in Rom…

Vor 60 Jahren publizierte das Zweite Vatikanische Konzil die Erklärung «Nostra Aetate» – Blick auf Entstehungsgeschichte und Wirkung.

Nach dreijährigen Beratungen hat das Zweite Vatikanische Konzil am 28. Oktober 1965 ein höchst bedeutungsvolles und einflussreiches Dokument veröffentlicht: die «Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen». Die Erklärung ist unter dem Namen «Nostra Aetate», ihren Anfangsworten, bekannt.

Für uns Juden ist «Nostra Aetate» bis heute von grösster Bedeutung. Sie hat das Verhältnis zwischen dem Judentum und dem Christentum essenziell verändert und verbessert und bildet bis heute die Basis für den jüdisch-christlichen Dialog.

Wir wollen hier einen weitsichtigen Blick auf «Nostra Aetate» werfen. Wir wollen das Dokument in historischen Kontext setzen, indem wir einerseits auf den geschichtlichen Hintergrund blicken, vor dem das Dokument entstanden ist, andererseits aber aus heutiger Perspektive einen kritischen Blick auf das Dokument vornehmen.

Alte Substitutionstheologie
«Nostra Aetate» hat eine lange theologische Entstehungsgeschichte. Sie beginnt mit einem fundamentalen Teil der christlichen Theologie. Die sogenannte Substitutionstheologie gehört zu den Grundelementen der christlichen Theologie. Gemäss dieser Theologie hat das Christentum das Judentum ersetzt, habe es substituiert. Den besonderen Bund, den Gott mit Israel, dem jüdischen Volk, ursprünglich geschlossen habe, habe er gekündigt, um mit dem Christentum einen neuen Bund zu schliessen. Gott habe das jüdische Volk verlassen, um nun das Christentum zum «neuen Israel» zu machen.

Die Substitutionstheologie anerkennt zwar, dass Gott sich dem jüdischen Volk offenbart hat und ihm die Thora mit der Fülle ihrer ethischen Gebote – vor allem auch dem Verbot zu morden – überreicht hat, sie behauptet aber, dass die Juden durch ihr Verhalten Jesus gegenüber verursacht hätten, dass ihre ursprüngliche Auserwähltheit nun auf die Kirche übergegangen sei.

Diese Theologie impliziert und basiert auf der Idee, dass nur eine Religion, nur ein Volk, in einer besonderen Beziehung zu Gott stehen, und umgekehrt Gott nur mit einer Religion direkt verbunden sein könne; dass nur eine Religion die richtige und wahre sein könne.

Schoah und Staatsgründung
Schon der Holocaust, aber primär die Gründung des Staates Israel hat die katholische Kirche gezwungen, die Substitutionstheologie fundamental infrage zu stellen und grundsätzlich zu überdenken.

Der Holocaust hat die Kirche zur Realisierung geführt, welche Auswüchse diese Theologie annehmen kann. Die Rückkehr der Juden nach Israel aber und vor allem die Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 hat der Kirche gezeigt und sie gezwungen zu realisieren, dass dieser alte Bund mit dem jüdischen Volk anscheinend nicht gekündigt worden ist, sondern bis heute seine Gültigkeit hat. Gott hat die Juden offensichtlich nicht verlassen. Er hat sie zwar fast 2000 Jahre in der Diaspora leben lassen, führt sie nun aber – genauso wie das sogenannte Alte Testament es prophezeit hat – in ihr eigenes Land zurück.

(Es ist dazu zu bemerken und zu betonen, dass der Vatikan erst im Jahre 1993 den Staat Israel anerkannt hat. Er hat also 45 Jahre gebraucht, um zu verstehen, zu akzeptieren und anzuerkennen, dass die Juden nun wieder ein eigenes Land haben, dass Gott ihnen wieder einen eigenen, unabhängigen Staat gegeben hat.)

«Nostra Aetate»
Auf dem Hintergrund der Schoah und der Gründung des Staates Israel ist «Nostra aetate» entstanden. Es ist ein Versuch, eine andersartige christliche Theologie zu entwickeln, die das Verhältnis zum Judentum neu definieren soll. Es kann und muss erwähnt werden, dass «Nostra Aetate» den jüdisch-christlichen Dialog zwar direkt und stark beeinflusst und namhaft verbessert hat. Gleichzeitig muss aus jüdischer Perspektive aber erklärt werden, dass auch dieses Dokument die (alte) Substitutionstheologie nicht überwunden, sich nicht klar von ihr distanziert hat.

In Abschnitt 4 des Dokumentes wird zwar erklärt, dass «die Juden […] immer noch von Gott geliebt [sind]» und «man die Juden nicht als von Gott verworfen oder verflucht darstellen [darf]». Dennoch findet sich dort expressis verbis die Aussage: «Gewiss ist die Kirche das neue Volk Gottes.» Die Theorie der Substitution ist also nicht überwunden.

«Nostra Aetate» war aus jüdischer Sicht zwar ein durchaus begrüssenswertes Dokument, es ist ihm aber nicht gelungen, in Bezug auf die Substitutionstheologie zu einer Veränderung zu führen, die unseres Erachtens notwendig ist. Auch «Nostra Aetate» bringt noch nicht zum Ausdruck, dass die katholische Kirche bereit und fähig ist zu akzeptieren, dass das Judentum einen vollen Wahrheitsanspruch und ein auf alle Zeiten uneingeschränktes Existenzrecht hat. Auch «Nostra Aetate» erwartet noch, dass sich eines Tages alle Menschen dieser Welt dem Christentum anschliessen werden.

Aktuelle Demonstrationen
Diese unveränderte Theologie hat einen direkten, wenn auch nicht immer bewusst gemachten, Einfluss auf die heutigen weltweiten Anschuldigungen gegen den Staat Israel und die weltweiten Demonstrationen gegen die Kriegsführung der israelischen Armee.

Es ist dazu zu ergänzen, dass die sogenannten islamistischen Kreise der Muslime in Bezug auf das Judentum eine recht ähnliche Ansicht wie die Kirche vertreten. Auch sie sind der Überzeugung, dass ihre Religion, der Islam, die einzig richtige sei. Deshalb erwarten auch sie, dass eines Tages, und möglichst bald, der Tag kommen werde, an dem sich alle Menschen dieser Welt ihrer Religion, dem Islam, anschliessen.

Bei den jetzigen Demonstrationen gegen Israel, vor allem an den Universitäten, ist es zu einem weltweiten Schulterschluss des Christentums und des extremistischen Islams gekommen.

Es ist klar, dass ein grosser Teil der – meist säkularen – Demonstranten nicht auf direkte Weise von der Theologie der katholischen Kirche oder des Islams beeinflusst oder geprägt ist. Die Substitutionstheologie des Christentums und die Weltanschauung des Islams haben aber bis in die Neuzeit einen derart starken Einfluss auf ihre Anhänger ausgeübt, dass sie wesentlicher Teil einerseits der westlichen und andererseits der arabischen Kultur geworden sind. Sie sind bis heute integraler Teil der Tradition dieser Gesellschaften, auch wenn sie heute säkularisiert sind.

Es ist natürlich ebenfalls klar, dass bestimmt eine Fülle unterschiedlicher politischer, emotionaler und sozialer Gründe zu den Demonstrationen und Anschuldigungen gegen Israel führen. Meiner Ansicht nach spielt da aber auch die theologische Komponente eine entscheidende, wenn auch nicht immer ausgesprochen, Rolle.

Neue Substitutionstheologie
Auf diesem Hintergrund sehe ich die heutige Anklage gegen den jüdischen Staat und seine Armee. In meinen Augen spielt sich da auf christlicher und auf ähnliche Weise auf islamistischer Seite folgender Mechanismus ab.

Die Geschichte hat also gezeigt, dass die alte Substitutionstheologie von der Wirklichkeit eingeholt worden ist und offensichtlich nicht richtig sein kann. Das Judentum hat überlebt, die Juden haben wieder einen eigenen Staat, haben eine eigene Armee und es gelingt ihnen, trotz aller christlicher Versuche, alle Juden umzubringen, und trotz aller arabischer Versuche, das Land zu zerstören, am Leben zu bleiben und sich nun auch zu verteidigen.

Die Absicht, das Existenzrecht des Judentums in Frage zu stellen, ist aber nicht verschwunden. Es ist weiterhin der Wunsch da, einen plausiblen Grund für die Negierung des Judentums zu finden. Es muss deshalb versucht werden, die alte Theologie, die versagt hat, durch eine neue zu ersetzen. Diese neue – heutige – Theologie soll ermöglichen, dass das Ziel, das immer angestrebt wurde, doch noch erreicht werden kann.

Die neue Theorie beabsichtigt, den Juden und ihrem neuen Staat auf andere Art das Existenzrecht abzusprechen. Auch die neue Substitutionstheorie anerkennt, dass Gott sich dem jüdischen Volk offenbart und ihm die Thora mit der Fülle ihrer ethischen Gebote – vor allem dem Verbot zu morden – überreicht hat. Die neue Substitutionstheologie stellt nun aber die Behauptung auf und versucht zu beweisen, dass die Juden und ihr Staat Völkermord begehen. Damit wird beabsichtigt, zu zeigen, dass die Juden nun die Thora und ihre fundamentalen Werte, die sie von Gott erhalten haben, verlassen und deshalb ihr Existenzrecht verloren haben.

Die neue Substitutionstheologie lautet so: «Die Juden bilden zwar die religiöse Basis unserer Religion und haben uns die Grundrechte der Menschheit beigebracht. Jetzt zeigen wir aber, dass sie sich selbst nicht mehr daran halten. Das gibt uns das Recht zu behaupten, dass wir die Juden ersetzt haben, dass sie und ihr Staat deshalb überflüssig sind und von der Bildfläche der Geschichte zu verschwinden haben. Früher waren die Juden das Volk Gottes. Jetzt sind wir es.»

Pluralismus der Religionen
Solange das Christentum und der extreme Islamismus einen religiösen Monismus vertreten, wird ein friedliches Zusammenleben der grossen monotheistischen Religionen nicht möglich sein. Solange die Theologie vertreten wird, Gott könne nur mit einer einzigen Religion in einem besonderen Verhältnis stehen, nur eine Religion sei wahr, wird der Konflikt zwischen den Religionen weitergeführt werden. Die Religionen haben die Aufgabe und Verantwortung, einen Pluralismus der Religionen anzuerkennen, eine Theologie, die versteht, dass verschiedene Religionen gleichzeitig als richtig und wahr akzeptiert werden können.

Dieser Pluralismus der Religionen ist nicht, wie auch schon behauptet wurde, ein Relativismus der Religionen, denn er stellt die Bedeutung und Richtigkeit jeder Religion in keinerlei Weise in Frage. Vielmehr bestärkt er sie. Er erklärt, dass mehr als eine Religion ganz für sich in Anspruch nehmen darf, richtig und wahr zu sein. Gleichzeitig impliziert er, dass jede Religion von den anderen Religionen voll akzeptiert und nicht infrage gestellt wird.

Auf diese Weise wird es auch nicht mehr nötig sein, an irgendeiner Art von Substitutionstheologie festzuhalten. Im interreligiösen Dialog ist es üblich, darauf zu verzichten, den anderen Religionen vorschreiben zu wollen, wie ihre Theologie auszusehen habe. Wenn die Theologie einer anderen Religion aber direkten und gefährdenden Einfluss auf das Zusammenleben der verschiedenen Religionen hat, ist es durchaus angebracht und akzeptiert, sich zur Theologie der anderen Religionen zu äussern.

Das Judentum propagiert einen Pluralismus der Religionen. Rabbiner Sir Dr. Jonathan Sacks, der ehemalige Oberrabbiner von England, hat in einem Buch, das er als direkte Reaktion auf 9/11 verfasst hat, auf sehr elegante und eloquente Art und Weise formuliert, wie diese Theologie des Judentums aussieht:

«Judaism (…) believes in one God, but not in one religion, one culture, one truth. (…) In the course of history, God has spoken to mankind in many languages: through Judaism to Jews, Christianity to Christians, Islam to Muslims” (»The Dignity of Difference”, 2002). (ibid. S. 55)

Es muss uns allen, vor allem den Angehörigen der monotheistischen Religionen, gelingen, einen Pluralismus der Religionen zu entwickeln. Wir müssen zu verstehen und zu akzeptieren versuchen, dass mehrere, unterschiedliche Religionen gleichzeitig richtig sein können und je in einem besonderen, eigenen Verhältnis zu Gott stehen.

Jede Religion ist verschieden von der anderen, aber der Glaube an einen einzigen Gott verbindet und ermöglicht es uns, in gegenseitigem Respekt und in Frieden miteinander zu leben. 

David Bollag