In seinen Tagebüchern zeigt sich Thomas Mann als einzigartiger Chronist einer zerrissenen Epoche und dokumentiert eingehend persönliche Reflexionen und die historischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts – ein Résumé zum 70. Todestag.
Den 1977 veröffentlichten Tagebüchern von Thomas Mann verdanken wir Einblicke in die Verhältnisse der Emigration in der Schweiz, Deutschland und den USA zwischen den Jahren 1933 und 1955. Dass durch zahlreiche Reisen Manns in Deutschland, insbesondere auch nach 1945 beziehungsweise 1947, die Lebensbedingungen in Europa Gegenstand der Aufzeichnungen sind, macht diese Tagebücher, bei aller Mann’schen Selbstdarstellung und wohl auch Selbststilisierung, zu einer unerschöpflichen Quelle der Information.
Am 10. Februar, nur Tage nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, hielt Thomas Mann im Auditorium Maximum der Universität München den Vortrag «Leiden und Grösse Richard Wagners». Anlass war der 50. Todestag Richard Wagners am 13. Februar 1933. Begonnen hatte Mann mit der Arbeit am Vortragsmanuskript bereits im Dezember 1932. Bis zu seinem Vortrag in München, den er unter anderem auf Einladung des Concertgebouw in Amsterdam auf einer Vortragsreise nach Amsterdam in den nachfolgenden Tagen auch in Brüssel und Paris wiederholte, hatte sich die politische Lage in Deutschland allerdings grundlegend verändert.
Wenn nicht unmittelbare, so doch mittelbare Folge war ein Artikel in den «Münchner Neuesten Nachrichten» vom 16./17. April 1933, wo unter dem Titel «Protest der Richard-Wagner-Stadt München» ein von 45 Persönlichkeiten, in einem Nachtrag dann insgesamt 48, unterzeichneter Beitrag, den ursprünglich der Direktor der Bayerischen Staatsoper Hans Knappertsbusch entworfen hatte, erschien. Prominenteste Mitunterzeichner neben Knappertsbusch waren wohl die beiden Komponisten Hans Pfitzner und Richard Strauss und der norwegische Zeichner Olaf Gulbransson. Mit und in diesem «Protest» wurde Thomas Mann als «Nestbeschmutzer» verunglimpft.
Der Titel des Vortrages und des Manuskriptes, das sich in der weiteren Bearbeitung zu einem Essay von über 50 Seiten ausgeweitet hat und in der Aprilausgabe 1933 der Zeitschrift des Verlags S. Fischer, «Die neue Rundschau», erstmals publiziert wurde, könnte auch für Manns Leben in den sich anschliessenden Jahren der Emigration und des Exils gelten: «Leiden und Grösse Thomas Manns».
Im Anschluss an die Vortragsreise begaben sich Thomas Mann und seine Frau Katia zu einem bereits zuvor geplanten Erholungsaufenthalt nach Arosa. Thomas Mann steht 1933 immerhin in seinem 68. Lebensjahr.
Von seinen Kindern Erika und Golo eindringlich gewarnt, kehrte er, fürs Erste, wie er notierte, nicht nach Deutschland zurück. Die verbleibenden Jahre seines 80 Jahre währenden Lebens verbrachte Mann zunächst für einige Monate in Sanary-sur-Mer, von wo er noch im gleichen Jahr 1933 nach Küsnacht zog und dort bis 1938 an der Schiedhaldenstrasse ein Haus bewohnte. Dem «Weiterzug» in die USA, zunächst nach Princeton an der Ost-, später nach Pacific Palisades an der Westküste der USA, waren in den Jahren 1934, 1935, 1936 und 1937 bereits vier Lesereisen in und durch Teile der USA vorangegangen, bei denen es auch die «Lebensbedingungen» auszuloten galt.
Ein Bekenntnis mit Folgen
Der Beitrag «Deutsche Literatur im Emigrantenspiegel», der am 26. Januar 1936 in der «Neuen Zürcher Zeitung» erschien und in welchem der damalige Feuilletonredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung» Eduard Korrodi Thomas Mann gegenüber der «übrigen Emigrantenliteratur» glaubte in Schutz nehmen zu sollen, führte zu einer Antwort Thomas Manns, in der sich dieser nach langem Zögern und selbstauferlegter Zurückhaltung zur Emigration und deren Literatur zugehörig bekannte und unter anderem schrieb: «Ich füge ihr (seiner Liste, Anm. d. Redaktion) die Namen Bert Brechts und Johannes R. Bechers hinzu, die Lyriker sind – weil Sie nämlich sagen, Sie wüssten nicht, einen ausgewanderten Dichter zu nennen. Wie können Sie das, da ich doch weiss, dass Sie in Else Lasker-Schüler eine wirkliche Dichterin ehren?»
Die deutsche Antwort auf dieses Bekenntnis Thomas Manns war seine Ausbürgerung und die Aberkennung der Ehrendoktorwürde der Universität Bonn. Der knappen Mitteilung über diese Aberkennung widmete Thomas Mann eine Antwort, die unter dem schlichten Titel «Ein Briefwechsel» noch im gleichen Jahr im Verlag von Emil Oprecht publiziert wurde, eine Auflage von immerhin 25 000 Exemplaren erreichte und mit zum eindrücklichsten an Auseinandersetzungen gehört, was in diesen Jahren dem Ungeist entgegengesetzt wurde.
Dass selbst ein Aufenthalt in der Schweiz für einen der «wortgewaltigsten» Gegner der Nationalsozialisten zu riskant war, war zumindest nach 1936 offensichtlich. Allerdings wiederholte sich die Geschichte in «umgekehrter» Weise nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als nach 1945 mit dem Beginn des Kalten Krieges zahlreiche Intellektuelle, zumal Emigranten aus Europa wie etwa Bertolt Brecht oder Lion Feuchtwanger, im Amerika der McCarthy-Ära «eingeholt» und zu Aussagen vor dem Ausschuss für «unamerikanische» Tätigkeit zitiert wurden. Dies veranlasste auch den «bürgerlichen» Thomas Mann, Amerika den Rücken zu kehren und aus dem Exil in den USA 1952 in die Schweiz zurückzukehren.
Dieser in gewissem Sinne Re-Migration waren in den Jahren zuvor zahlreiche Reisen nach Europa, in die Schweiz und auch nach Deutschland vorangegangen. Da eine Rückkehr nach Deutschland Thomas Mann wohl mehr als «nicht opportun» schien, bot sich eine neuerliche Niederlassung in der Schweiz an, wo etwa mit dem Zürcher Buchhändler und Verleger Emil Oprecht, aber auch dem Arzt Erich Katzenstein und seiner Frau Nettie einige Freunde aus der Vorkriegszeit lebten. Er verbrachte ein Jahr zunächst in Erlenbach und lebte ab 1953 in Kilchberg.
Aufklärung aus dem Exil
Bereits auf seinen Vortragsreisen in den Vorkriegsjahren, aber vor allem seit seiner Niederlassung in Amerika nach 1938 ist Thomas Mann – neben der Fortsetzung seiner schriftstellerischen Arbeit, zunächst am vierten Band seiner «Josephs Tetralogie», später am «Doktor Faustus» – unermüdlich damit befasst, in Amerika und darüber hinaus über die Unmenschlichkeit des Regimes in Deutschland aufzuklären. Zunächst dienen ihm dazu weitere Vortragsreisen, zu denen er vor allem von Universitäten quer durch die Vereinigten Staaten eingeladen wird. Ab 1940 kann er sich durch Vermittlung von Tochter Erika über den in Deutschland als «Feindsender» diffamierten und verbotenen, dennoch am meisten gehörten Sender der BBC mit einer monatlichen Sendung direkt an seine deutschen Hörer wenden. Während die ersten Ansprachen an die deutschen Hörer noch von einem BBC-Sprecher vorgetragen werden, wird Thomas Mann sie bald selbst in Los Angeles auf eine Schallplatte aufnehmen, die dann über New York nach London «übertragen» und dort ausgestrahlt wird.
Dabei nimmt Thomas Mann ganz unterschiedliche Themen auf. So sprach er am 25. Mai 1943 zum 10. Jahrestag der Bücherverbrennungen im Mai 1933. Bereits am 27. September 1942 thematisierte er die Verfolgung der Juden in Europa.
«Deutsche Hörer, man wüsste gern, wie ihr im Stillen von der Aufführung derer denkt, die in der Welt für Euch handeln, die Juden-Gräuel in Europa zum Beispiel – wie Euch dabei als Menschen zu Mute ist, das möchte man Euch wohl fragen. Ihr steht immer weiter zu Hitlers Krieg und ertragt das Äusserste aus Furcht vor dem, was die Niederlagen bringen würden: vor der Rache der misshandelten Nationen Europas an allem, was deutsch ist. Aber gerade von den Juden ist solche Rache nicht zu erwarten. Sie sind das wehrloseste, der Gewalt und Bluttat abgeneigteste aller Eurer Opfer (…).»
Monate später etwa verleiht er nach der Bombardierung Lübecks durch die Alliierten in einer weiteren Sendung seine grosse Betroffenheit über die Zerstörung seiner Geburts- und Heimatstadt Ausdruck.
Daneben führt er eine überaus umfangreiche, heute in vielen Teilen publizierte Korrespondenz, die er einem seit Jahren streng strukturierten und «disziplinierten» Arbeitstag verdankt, den er, wenn er nicht auf (Vortrags-)Reisen ist, auch durch die ganzen Jahre seiner Emigration aufrechterhält. Dabei steht immer wieder auch die (Selbst-)Einschätzung seiner schriftstellerischen Arbeit im Vordergrund.
So schrieb Thomas Mann noch aus Princeton am 1. Januar 1942 an Erich von Kahler über die Arbeit am «Doktor Faustus»: «Schliesslich ist es eine Art Weltgedicht, das ich unter den Händen habe, wenn auch ein humoristisches und bizarres. Ich habe mich nie für gross gehalten, aber ich liebe es, mit der Grösse zu spielen und auf einem gewissen vertraulichen Fuss mit ihr zu leben.»
In einem Brief an Hans Mayer schreibt Thomas Mann 1950: «Es ist ja begreiflich, dass das Alters- und Schmerzenswerk Doktor Faustus meinem Herzen nahe geblieben ist. Und auch die Zeit der Unio Mystica mit ‹dem Stern der schönsten Höhe›, der Arbeit an dem Goethe-Roman ist in meiner Erinnerung gute Zeit. Und doch mag es wohl sein, dass die Nachwelt, wenn es eine gibt und wenn sie meiner gedenkt, die menschheitliche Heiterkeit der Josephserzählung als das Höchste ansprechen wird, was mir zu erreichen vergönnt war.»
Der letzte Eintrag
Nach den anstrengenden Wochen um die Feiern zu seinem 80. Geburtstag am 6. Juni 1955 reisen die Manns zu einem Ferien- und Erholungsaufenthalt erneut, wie auch schon in den Vorkriegsjahren, ins niederländische Noordwijk. Dort allerdings erkrankt Thomas Mann und wird zur Behandlung nach Zürich zurückgeflogen.
«Zürich, Freitag, den 29. VII. (Juli) 55. In dem riesigen Kantonsspital, bei der Universität und zu ihr gehörig. – So ist denn der schöne Aufenthalt von Noordwijk in dies Krankheitsabenteuer ausgegangen: die Venenentzündung, die zweifellos als eine verspätete Reaktion auf die Anstrengungen und Aufregungen im Mai und Juni zu betrachten. – Der Ambulanz-Transport nach Amsterdam und von da mit dem Flugzeug nach Zürich und in dieses Bett erfolgte am Sonnabend, den 23. (…) Gute, ja erstaunliche Fortschritte in diesen 6 Tagen, obgleich mein Mund wund, der Hals geschwollen und entzündet, das Essen Qual und Mühsal, der Appetit gleich null. K(atia), vormittags und nachmittags bei mir, versorgt mich mit Ergänzungen für das schlechte Essen. Nachmittags eine Viertelstunde sitzend auf dem Bettrande. Die Nächte anfangs sehr schwierig. Abenteuer der Bettschüssel, nie erprobt. Oft grosse Niedergeschlagenheit. Besuche von Gret und Bibi, den Buben, Golo, Schweizer. Blumen im Zimmer. – Prof. Löffler, sympathische Berühmtheit, etwas Primadonna, aber angenehm. Spricht von Hannos Typhus, der ein Gewand des Tod(es), nennt das eine sehr gute medizinische Einsicht. – Immer wiederholtes Pinseln des Schlundes und Mundes nach dem Gurgeln. – Rauche kaum, drei Zigaretten. – Das Wetter kühl und regnerisch. – Füttern der Spatzen. – Las Shaws ‹Heiraten› zu Ende. Lese Einsteins ‹Mozart›. – Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dieses Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten. Soll heute etwas im Stuhl sitzen. – Verdauungssorgen und Plagen.»
So lautet Thomas Manns letzter Eintrag in seinem Tagebuch. In den Tagen seines Spitalaufenthaltes schreibt und diktiert er noch einige Briefe. Sie sind die späten Zeugnisse seiner immensen Korrespondenz. Thomas Mann stirbt am 12. August 1955 abends. «Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode», wie der letzte Satz in Thomas Manns 1913 erschienener Novelle «Der Tod in Venedig» lautet.