im Gespräch 03. Okt 2025

Menschen Ideen schenken

Autorin Sibylle Berg vereint Literatur mit Lösungsansätzen zwischen Utopie, Ironie und Realismus.

Sibylle Berg schliesst ihre Tribologie mit einer utopischen Schrift ab, die aktueller nicht sein könnte – ein Gespräch über Realpolitik, Tech-Faschismus und KI.

tachles: Die Nummer drei Ihrer Trilogie ist da. Nach Realismus und Revolution folgt nun die Utopie, die in den Kernen eine andere, gerechtere Ordnung vorschlägt. Ist das nun das politische Programm, das Sie in Strassburg als vor einem Jahr gewählte Europaabgeordnete umsetzen wollen?
Sibylle Berg: Mein Nebenjob in der EU ist für vieles grossartig. Zum einen, um zu verstehen, warum es unbedingt direkte Demokratien braucht. Die EU in ihrer Zusammensetzung, mit den nicht von den Bevölkerungen gewählten Vorsitzenden und der Kommission, ist viel zu wichtig, um sie Absprachen und Hinterzimmer-Klüngel zu überlassen. Wenn man, wie ich, fraktionslos zu mit dem Parteikollegen zwischen mehr als 700 Parlamentariern sitzt, kann man durch Abstimmungen und das Sitzen in Ausschüssen wenig bewirken. Aber die EU gibt mir viel Spielraum, um das, was mir wichtig ist, zu beleuchten. Das ist die ständig irrer werdende Überwachung der Menschen, die nicht die Möglichkeit haben, ihre gewählten Politikerinnen zurückzuüberwachen. Zum anderen ist es Armut in der EU, die keine Lobby hat und zunimmt. Bald findet in Berlin ein grosses Friedensfestival statt, das ich anregte und das wir im Team zusammen umsetzen. Es wird grossartig, und danach herrscht Frieden auf der Welt. So geht das.

Im Roman «La Bella Vita» begegnen der Leserschaft wieder Figuren, die sie schon in den ersten beiden Bänden begleitet haben: Hanna, Piotr, Karen, die Erzählerin. Nehmen Sie sie mit – oder lassen Sie sie los?
Ich stopfe sie aus und stelle sie in den Keller – bildlich. Figuren sind für mich Transportmittel von Ideen, kein Fleisch. Schwer ist nicht das Loslassen der Figuren, sondern der Abschied vom Themenkomplex: Gegenwart, Revolution, die Gesellschaft danach. Es ist traurig, zu akzeptieren, dass das nur Fantasie war und unsere reale Welt nicht so schön ist. Und es ist hart, danach wieder ein völlig neues Sujet zu finden. Ich war jahrelang beschäftigt mit der Vorbereitung einer neuen Welt – jetzt stehe ich wieder in der alten und muss mir das nächste grosse Projekt erarbeiten. Na ja, oder darf. Eigentlich freue ich mich darauf, wieder etwas ganz Neues zu lernen.

In «La Bella Vita» kollabiert der Kapitalismus, und daraus wächst eine frei organisierte, anarchische Gesellschaft. Im Buch funktioniert das. Kann das auch in der Realität funktionieren?
Nun, der Kapitalismus kollabiert ja auch ohne die Revolution, die ich im zweiten Teil der Trilogie beschrieben habe. Der Wahnsinn der Kriegslust, der Zusammenbruch der Sozialstaaten, die Tyrannei einer unregulierten KI, die neuen Lagerbildungen in der Welt bei abnehmenden Ressourcen und die Ratlosigkeit, mit der die Politik der älter werdenden Bevölkerung gegenübersteht, werden das alte System zusammenbrechen lassen. Danach kann alles passieren. Im neuen Buch entwerfe ich ein Europa ohne Angst, Leistungsdruck, Elend und Herrschaft.

Revolutionen gelten als blutig. Ihre nicht. Steht uns eine reale Revolution noch bevor?
Im Moment ist alles offen – auch Gutes. Vielleicht implodiert der Tech‑Faschismus von selbst: Serverfarmen fressen Energie, Menschen merken irgendwann, dass sie nur noch Stromlieferanten und Datenspender sind. Der Kapitalismus hatte jede Chance, sich zum Besseren zu entwickeln. Eine Zeit lang war er sozialer, den Menschen ging es messbar besser. Statt weiterzugehen, hat die Gier gesiegt.

Gier ist doch im System angelegt.
Sicher. Aber Systeme sind menschengemacht – also veränderbar. Der Kapitalismus wurde nicht von einer höheren Macht auf die Erde geworfen. Menschen haben ihn entworfen und verschärft. Ebenso konsequent haben insbesondere die USA alternative, menschenfreundlichere Modelle klein‑ oder weggebombt – man denke an die Hysterie um winzige sozialistische Experimente wie Kuba oder an den Krieg gegen Vietnam. Wie stark ist ein System, das so viel Angst vor einem Gegenmodell hat?

In Ihren Büchern sezieren Sie Überwachung, Algorithmen oder etwa den «Tech‑Faschismus». Ressource ist die Realität. Geht Mahnung besser durch Literatur?
Nein, Mahnung ist öde. Literatur und Kunst haben die Freiheit, den Menschen Ideen zu schenken. Nichts ist gefährlicher, darum nimmt sich jede Diktatur die Einschränkung der Kunstfreiheit als Erstes vor.

Meine Vermutung war und ist: Ein Grossteil der heutigen Überwachungsinfrastruktur wurde für genau diesen Moment gebaut, den Kollaps: Wohnraumnot, explodierende Preise, Unruhen, Kriege. Wer die Wut des Volkes fürchtet, möchte vorab aussortieren. Gesetze, die präventive Inhaftierungen ermöglichen, liegen bereit; die digitalen Werkzeuge stehen sowieso parat. Wozu eine staatlich verordnete E‑ID samt Wallets? Für Bequemlichkeit? Oder für Kontrolle?

Bequemlichkeit ist die Rattenfängerin der Tech-Angebote. Viele lieben die digitale Abkürzung und tappen in die Falle.
Ich finde daran nichts bequem. Dienstleister lagern Arbeit an uns aus, Bahn, Versicherungen, Post, und sparen damit Milliarden an Lohnkosten. Wir erledigen gratis, wofür früher Menschen bezahlt wurden. Am Ende sitzen wir mit zehntausend Passwörtern vor Formularhöllen und reden mit Chat‑Bots über Probleme, die es ohne die «Digitalisierung» gar nicht gäbe. Ich verweigere mich, solange es geht.

Gleichzeitig verteufeln Sie die Technologie nicht. Im Buch wird sie zum Werkzeug der Menschen. Ist es dafür nicht längst zu spät?
Niemals. Menschen leben weiter – die Frage ist, wie. Energie bleibt die harte Grenze: Woher soll der Strom kommen? Die vermeintliche Lösung ist wieder Atomkraft – na gut. Selbst wenn Energie da wäre: «Künstliche Intelligenz» ist ein irreführender Begriff. Es ist die Intelligenz der Programmierenden, in Code gegossen. Kleine, zweckgebundene Anwendungen – in Medizin oder Analyse – können grossartig sein, ohne dass ein Tech‑Monopol drübersteht. Gefährlich wird es da, wo KI Menschen bewertet: Scoring, prädiktives Policing, automatisierte Selektion. Da herrschen nicht Maschinen, sondern Konzerne – ganz normale Kapitalisten, die am Menschen verdienen.

Ihr Buch spielt erkennbar im europäischen Bezugsrahmen. Was ist mit dem Rest der Welt?
Der Westen hält sich für den Nabel der Welt, aber er ist es nicht. Wenn Europa und der amerikanische Appendix so weitermachen – militärisch, eurozentrisch, überheblich –, werden sie unbedeutend. Parallel entstehen andere Formationen, die man hier gern verteufelt, ohne sie zu kennen. Der Ausweg ist Diplomatie, zuhören, reden. Das war einmal eine Schweizer Stärke. Statt Friedensdiplomatie wird heute über Auslandseinsätze fabuliert. Mit allen reden, einander zuhören, ohne zu werten, im privaten und politischen Leben, wäre revolutionär genug.

Migration und Rassismus dominieren die reale Welt. Im Buch werden sie überwunden.
Europa trägt Verantwortung. Der Westen hat mit Kolonialismus und Ausbeutung Elend produziert – das bis heute andauert. Menschen, denen wir Lebensgrundlagen zerstört haben, haben jedes Recht, sich ein würdiges Leben zu suchen. Wenn der Westen aufhörte, Rohstoffe abzuschöpfen, Diktatoren zu päppeln und Kriege zu befeuern, und stattdessen die Kontrolle über Minen und Ressourcen den Ländern selbst überliesse, wäre viel gewonnen. Dann könnten diese Gesellschaften etwas Eigenes aufbauen und uns ihre Rohstoffe zu Preisen ihrer Wahl verkaufen.

Und nicht vergessen: Ich bin Schriftstellerin und keine Expertin. Für den Happy-Hippie-Entwurf der schönen neuen Welt habe ich wieder ein Jahr lang wissenschaftliche Neuerungen, Konzepte und Ideen studiert, um sie in einen Entwurf zu giessen. Das Buch ist, hoffentlich, Literatur und soll Denkräume öffnen. Es ist keine wissenschaftliche Bauanleitung.

Dem stünde entgegen, dass Menschen weltweit nach westlichem Wohlstand streben.
Vielleicht, weil sie nie in Ruhe menschenwürdig leben durften. Vielleicht ist der Konsumrausch eine Kompensation. Ich glaube nicht, dass Kaufen das Ziel des Lebens ist. Wenn Grundbedürfnisse gesichert sind, braucht es weniger Ersatzglück.

Was wünschen Sie sich mit «La Bella Vita»?
Mut zur Fantasie. Die Bereitschaft, sich eine gerechte Ordnung vorzustellen – und zu üben, wie sie im Kleinen funktionieren kann: Verlässlichkeit, Teilhabe, Fürsorge, Disziplin ohne Herrschaft. Utopien sind Werkstätten. Wenn wir sie nicht bauen, bleibt nur die Werkhalle der Konzerne. Neugier statt Zynismus. Und dass Leserinnen und Leser das Buch nicht als Endpunkt lesen, sondern als Anfang, als Einladung, im Alltag kleine Proben einer besseren Ordnung zu wagen: solidarisch handeln, nicht jede Bequemlichkeitslüge kaufen, Technik dort nutzen, wo sie Menschen dient, und sich sonst dem Lärm entziehen. Das wäre schon sehr viel.

«PNR: La Bella Vita» ist im Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln, 2025, erschienen.

Yves Kugelmann