deutschland 11. Jul 2025

Hamburg feiert den Surrealismus

Max Ernsts «Wiedersehen unter Freunden» von 1922.

Auf der Suche nach der Poesie des Unerklärlichen – eine neue Ausstellung dokumentiert eine der zentralen Kunstbewegungen des 20. Jahrhunderts.

Vor 100 Jahren entstand in Paris mit dem Surrealismus die prägendste künstlerische Bewegung des 20. Jahrhunderts. Er war eine Reaktion auf die Verheerungen des Ersten Weltkrieges, wurzelt ideenhistorisch aber auch in der Deutschen Romantik. Wie eng die Geistesverwandtschaft der Surrealisten zu dieser Epoche war, zeigt eine neue Ausstellung.

Die Ignoranz der Schweizer Sammler war schon beklagenswert. Max Ernst, diese Erkenntnis gehört zu den kleinen Überraschungen der grossen Surrealismus-Schau «Rendezvous der Träume» (bis 12. Oktober) in der Hamburger Kunsthalle, hatte durchaus Zeiten mauer Konjunktur auf dem Markt. Zumindest dem Schweizer Markt. Ein in der Ausstellung gezeigter Brief vom Kunstmuseum Basel, datiert auf den 4. September 1950 und adressiert an einen verkaufsinteressierten Hamburger Sammler, beschied diesem, leider müsse man ihm mitteilen, dass «Max Ernst in der Schweiz nicht leicht zu verkaufen ist». Es habe sich «halt allmählich doch herumgesprochen», dass er «unter den Surrealisten wohl eine grosse, anregende Kraft, aber als Künstler doch nicht von erstem Range» sei. Die Zeit für ihn war einfach noch nicht gekommen. Heute gilt Max Ernst als ein Hauptvertreter des Surrealismus und ist sogar der Ausgangspunkt der Hamburger Ausstellung, die sich als interessanten Fokus die geistige Liaison zwischen den Surrealisten und den Romantikern ausgesucht hat. Als Max Ernst 1964 nach Hamburg kam, um den Lichtwark-Preis entgegenzunehmen, sah er in der Kunsthalle Philipp Otto Runges Romantik-Bild «Morgen» von 1808 und malte wenig später sein Werk «Ein schöner Morgen». In der Schau wird der Surrealist auch in Kontext gesetzt zu Caspar David Friedrich und dessen Romantisierung der Welt. Auch Ernsts (manchen Quellen zufolge jüdischen) erster Förderin Johanna Ey wird Aufmerksamkeit zuteil. Ey hatte in der Nähe der Düsseldorfer Kunstakademie eine Kaffeestube aufgemacht, die sich zum Maler-Treffpunkt entwickelte, was die Gastwirtin «Mutter Ey» dazu bewog, eine Galerie zu eröffnen. Von Künstlern wie Otto Dix verewigt, galt sie als «meistgemalte Frau» ihrer Zeit.

Freiheit, Individuum, Natur
Thematisch kreist die Schau um Motive wie das Unbewusste und die Schöpfung, um Metamorphosen und Waldeinsamkeit, um Kreaturen der Nacht und die Weite des Kosmos, um Hymnen an das Licht und Wolken als natürliches wie geistiges Phänomen. Um Freundschaften und Künstlerkollektive, Liebe und Tod. Die poetische Fülle des Lebens. Entstanden in Paris als Avantgarde-Bewegung und Antwort auf den Zusammenbruch traditionell-abendländischer Wertvorstellungen im Ersten Weltkrieg, zielte der Surrealismus auf die Wiederherstellung der Ganzheit des Menschen durch die Befreiung aus inneren wie äusseren Zwängen. Die Surrealisten knüpften an den französischen Symbolismus an, aber auch an Impulse von literarisch-philosophischen Granden wie Novalis. Die Romantik ging aus den Umbrüchen der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen hervor und war eine Reaktion auf Industrialisierung und Aufklärung. Sie rang um eine Freiheit, die Individuum und Natur in den Mittelpunkt stellt und den Blick für das Rätselhafte nicht verliert. Die Surrealisten gingen einen ähnlichen Weg. Kunst und Literatur begriffen sie als ein Medium der Weltveränderung und wirkmächtiges Instrument zur Selbsterkenntnis. Ausdrücklich integrierte man (einige Surrealisten hatten einen Hintergrund als Naturwissenschaftler beziehungsweise Mediziner) auch Tendenzen zeitgenössischer Wissenschaft, Psychiatrie und Psychoanalyse. Die Bewegung war quasi beinahe interdisziplinär, auch das widerspiegeln die Exponate. Ebenso ihre Internationalität: Der Surrealismus erhob globalen Anspruch und entfaltete in Afrika und in der Karibik starke Eigendynamik. Er geriet zum weltweiten Phänomen, spätestens nachdem etliche seiner Protagonisten, etwa Yves Tanguy, André Breton und André Masson, in die USA emigriert waren. Max Ernst war es gelungen, 1941 mithilfe seiner (kurzzeitigen Ehefrau) Peggy Guggenheim, Grossmäzenin der New Yorker Szene, dorthin zu fliehen. Schon 1929 war der Künstler Kurt Seligmann aus seiner Heimatstadt Basel nach Paris gezogen und hatte sich 1934 den Surrealisten angeschlossen. Nach Kriegsausbruch war er der erste europäische Surrealist, der nach Amerika ging. Die Hamburger Ausstellung zeigt seine «Metamorphosen». Immer wieder malte Seligmann solche biomorphen, hybriden Formen. Für Seligmann, wie für Novalis, war Kunst eine Möglichkeit, die Verbindung von Natur und Psyche darzustellen.

Spektakulär und subversiv
Als 1941 viele Surrealisten in Marseille auf eine Fluchtmöglichkeit aus Europa warteten, schuf Breton das Kartenspiel «Spiel von Marseille». Und widmete die zentrale Figur darin: Novalis. Das «Jeu de Marseille» entstand als kollektives Kunstprojekt im Frühjahr 1941 in der südfranzösischen Hafenstadt. André Breton hatte das ans Tarot erinnernde Blatt mit seiner Frau Jaqueline Lamba und sechs weiteren Surrealisten in einen Bilderkanon verwandelt, dessen Figuren bestimmte Geisteshaltungen repräsentieren. Sigmund Freud wurde als Magier des Traums aufgenommen, die ihm gewidmete Spielkarte zeugt von einem ambivalenten Blick auf die Psychoanalyse. Von der ersten produktiven Phase 1924 bis 1929 bis zu seiner offiziellen Auflösung 1969 sorgte der Surrealismus auch für, mal spektakuläre, mal subversive, Debatten und Stellungnahmen. Auch diese Aspekte betrachtet die Hamburger Ausstellung. Sie ist Teil des internationalen Reigens der Feiern aus Anlass «100 Jahre Surrealistisches Manifest» und wird in anderer Form auch im Philadelphia Museum of Art (vom 8. November bis 16. Februar 2026) zu sehen sein. In der aktuellen Schau sind rund 250 Gemälde, Zeichnungen, Fotoarbeiten, Skulpturen und Objekte von 55 Surrealisten und 25 Romantikern in neuen Kontexten und Hommagen zu sehen. Mehr als 180 Ikonen des Surrealismus – von Salvador Dalí, Paul Klee, Meret Oppenheim, Valentine Hugo, Dorothea Tanning, Kurt Seligmann und André Masson bis Toyen (Marie Cerminova). Romantik und Surrealismus trennt ein Jahrhundert, doch sie eint eine Analogie. Die inneren und äusseren Bilderwelten der Romantiker und deren Naturauffassung spielten für ihre Adepten eine Rolle auf der Suche nach einer Poesie des Unerklärlichen. Surrealismus und Romantik, ihr Bild vom Individuum, von Natur, Freiheit und Phantasie, haben von ihrer Anziehungskraft nichts verloren. l

«Rendezvous der Träume. Surrealismus und deutsche Romantik». Bis 12. Oktober, Kunsthalle Hamburg, Glockengiesserwall 5, Hamburg.

Katja Behling