Mit der Gründung einer neuen Stiftung finden die einzigartigen «Breslauer Schriften» in Zürich nicht nur eine neue Heimat, sondern auch eine neue Zukunft.
In der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ) lagert ein Bestand von rund 6000 Bänden der sogenannten Breslauer Schriften, welche den Nationalsozialismus nur in Fragmenten überstanden. Sie stammen aus der einst bedeutenden Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau, heute Wrocław, Polen, einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. In den 1950er Jahren wurden die Bücher dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) übergeben. Seit 2022 arbeiten der SIG und die ICZ gemeinsam daran, die Sammlung langfristig zu sichern, zu restaurieren und öffentlich zugänglich zu machen. Unterstützt vom Kanton Zürich beauftragten sie 2023 die Experten Andrea Raschèr und Olaf Ossmann mit einem Gutachten zur Gründung einer eigenständigen Stiftung als künftige Eigentümerin.
Breslauer Seminar
Das 1854 von Jonas Fraenkel gegründete Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau war eine der führenden Ausbildungsstätten für Rabbiner und jüdische Gelehrte Europas. Geprägt vom Geist der jüdischen Emanzipation verband es Religion und Wissenschaft und suchte zwischen Orthodoxie und Reform den innerjüdischen Ausgleich. Herzstück des Seminars war die Bibliothek mit rund 40 000 Bänden, darunter mittelalterliche Handschriften, hebräische Inkunabeln und Werke aus sämtlichen Bereichen jüdischer und angrenzender Gelehrsamkeit.
Olaf Ossmann, Mitverfasser des Gutachtens, beschreibt es im Gespräch mit tachles so: «Diese Bücher sind wirklich einzigartig. Viele enthalten handschriftliche Anmerkungen oder Ergänzungen der Rabbiner. Und sie stammen aus einer Zeit, als das Judentum in Deutschland noch bestrebt war, innerreligiöse Differenzen zu überbrücken und einen gemeinsamen Weg zu finden.»
Mit der Reichspogromnacht 1938 wurde das Seminar gewaltsam zerstört, die Bibliothek teilweise vernichtet und der Rest vom Reichssicherheitshauptamt beschlagnahmt. Nach dem Krieg sicherten die Alliierten verbliebene Bestände. Im Rahmen der 1946 gegründeten Jewish Cultural Reconstruction Inc. (JCR) unter der Leitung von Hannah Arendt wurden Tausende geraubte Bücher weltweit verteilt. Rund 6000 Bände der Breslauer Sammlung gingen 1950 zur treuhänderischen Aufbewahrung an den SIG und später an die ICZ. Laut Daniel Lipson von der Nationalbibliothek Israels war diese Zuweisung nicht unumstritten: Die Bibliothekare Shlomo Shunami und Gershom Scholem hielten die Bücher für ungeeignet für die Schweiz – zu speziell, zu wenig nutzbar. Die JCR entschied sich dennoch dafür, nicht zuletzt, weil das deutschsprachige Judentum hier überlebt hatte.
Ein neuer Anfang
Heute steht das Projekt vor einer entscheidenden Wende. Mit dem geplanten Stiftungsmodell soll die Sammlung nicht nur gesichert, sondern auch wissenschaftlich erschlossen und öffentlich digital wie analog zugänglich gemacht werden.
Für Ossmann geht es dabei mehr um das Zukunftspotential der Sammlung als nur um Kulturgutschutz: «Mich interessiert das Vorwärtsgewandte daran.» Digitale Technologien wie künstliche Intelligenz eröffnen neue Perspektiven. Ossmann denkt an virtuelle Avatare historischer Rabbiner, die auf Basis der digitalisierten Werke befragt werden könnten. «Wir stehen da vor einem Umbruch», sagt er. «Alte Schriften sind heute nicht mehr schwer zugänglich, im Gegenteil: Sie lassen sich ganz neu zum Sprechen bringen.»
Diese aktive Bewahrung eines geistigen Erbes reicht dabei über die Grenzen der Schweiz hinaus. Viele der einst in Breslau genutzten Bücher sind heute über mehrere Länder verteilt. Die Nationalbibliothek Israels verwahrt zahlreiche Exemplare, ebenso das Emanuel-Ringelblum-Institut in Warschau. Eine physische Rückführung halten beide für unrealistisch; stattdessen arbeiten sie an der digitalen Erschliessung einzelner Bestände, die künftig miteinander vernetzt werden könnten.
Stiftungsgründung
Auffällig ist, dass weder in Israel noch in Polen eine Stiftung speziell für die Breslauer Schriften gegründet wurde. In der Schweiz hingegen soll das nun geschehen.
Stiftungsexpertin Sophie Hersberger von Consense Philanthropy Consulting, einem Spin-off des Centers for Philanthropy Studies der Universität Basel, erklärt: «Die Schweiz ist ein weltweit anerkannter und etablierter Stiftungsstandort mit hoher Rechtssicherheit, stabiler politischer Lage und grosser Erfahrung im Bereich des gemeinnützigen Engagements. Über 13 000 gemeinnützige Stiftungen sind hier registriert. Pro Kopf zählt die Schweiz damit zu den stiftungsreichsten Ländern Europas. Unser liberales Stiftungsrecht erlaubt individuell angepasste Strukturen und langfristige Sicherung von Vermögenswerten. Die Schweiz geniesst zudem international hohes Vertrauen in Bezug auf Transparenz, Neutralität und Kompetenz im Umgang mit Kulturerbe.»
Das von Raschèr und Ossmann erarbeitete Gutachten dient als Grundlage für die Ausarbeitung der Stiftungsstatuten. Es empfiehlt, Zürich als Standort zu wählen. Ossmann erklärt: «Es ging darum, dass man eine eigenständige Eigentümerin für dieses Vermögen schafft, weil es treuhänderisch ist und man es vom Vermögen des SIG absondert.» So könne man gezielt Drittmittel einwerben und sich voll auf Erhalt, Forschung und Vermittlung der Sammlung konzentrieren. Die Gründung der Stiftung ist bis Ende 2025 geplant, eine entsprechende Projektstelle wurde vom SIG geschaffen.
Finanzierungsfragen
Mit einem Regierungsratsbeschluss im Juni haben der Kanton und die Stadt Zürich ihre Unterstützung für die Stiftung bekräftigt und stellen gemeinsam knapp 500 000 Franken für die Errichtung sowie Vorarbeiten wie Gutachten, Projektmanagement und Rechtsberatung bereit. Das Präsidialdepartement der Stadt hat zudem angekündigt, dem Stadtrat einen Antrag auf zusätzliche Beteiligung vorzulegen. Die grössere Herausforderung steht jedoch noch bevor: Die Restaurierung der Sammlung wird auf fünf bis sechs Millionen Franken geschätzt. Nach den Vorgaben des kantonalen Gemeinnützigen Fonds muss mindestens die Hälfte dieses Betrags durch Drittmittel gedeckt werden, etwa von Stiftungen, privaten Spenderinnen und Spendern sowie jüdischen Organisationen im In- und Ausland.
Hersberger weist darauf hin, dass es neben der Deckung dieser Gründungs- und Initialkosten für die nachhaltige Erfüllung des Stiftungszwecks auch wichtig sei, eine langfristige Finanzierungsstrategie für die Stiftung zu haben. Nur mit stabilen finanziellen Grundlagen lassen sich Vermittlung und laufender Betrieb auch in Zukunft verlässlich gewährleisten. Eine breit abgestützte und mehrjährige Finanzierungsstrategie schützt die Stiftung auch vor Abhängigkeiten von kurzfristigen Förderungen, schafft Planungssicherheit für Partner und stärkt das Vertrauen von Geldgebern. Zudem ermöglicht sie die strategische Nutzung von Vermögenserträgen und Spenden im Sinne des Stiftungsrechts. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass viele kulturelle und gemeinnützige Projekte in der Schweiz um dieselben öffentlichen und privaten Mittel konkurrieren, auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Der SIG ist aktuell an mehreren Grossvorhaben involviert, darunter das Begegnungszentrum «Doppeltür» in Lengnau mit einem Gesamtbudget von über 11 Millionen Franken, die Neugestaltung des Jüdischen Museums in Basel für rund 6 Millionen oder das Holocaust-Memorial in Bern für 2,5 Millionen. Dafür braucht es ein koordiniertes Fundraising.
Eigentum und Verantwortung
Auch die juristische Eigentumssituation der Schriften ist komplex. Die Übergabe an den SIG durch die JCR erfolgte als «Zuweisung herrenlosen jüdischen Kulturguts» durch die US-Militärregierung – ein «völkerrechtlich begründetes Notrecht», aber kein privatrechtlich einwandfrei dokumentiertes Eigentum. Der SIG war somit nie zivilrechtlicher Eigentümer, sondern verwaltete den Bestand treuhänderisch. Diese Verantwortung soll nun auf diese neue Stiftung übertragen werden, die laut Gutachten künftig «als Treuhänderin des jüdischen Volkes» fungieren soll. Ossmann erläutert, dass dieser Begriff keine juristische Kategorie sei, wohl aber eine ethische Verpflichtung: «Die Schriften stammen aus einer jüdischen Institution, die es nicht mehr gibt. Deshalb gilt er als Teil des kollektiven Kulturguts des jüdischen Volkes. Wer das ist, wurde in der Vergangenheit wesentlich vom jüdischen Weltkongress und von Israel definiert.»
Ansprüche Dritter, etwa von Staaten oder Institutionen, die sich als Nachfolgeeinrichtungen verstehen, hält er für unwahrscheinlich. «Es gibt keinen einzigen Fall, wo man eine Verteilung der JCR als falsch angesehen hat. Die Schriften wurden nicht aus einer polnischen Bibliothek weggenommen, sondern kamen von einer deutsch-jüdischen Institution, die auf dem heutigen Gebiet Polens ist. Diese Bibliothek steht in der Tradition des deutschen Judentums und die heutigen Institutionen in Wrocław stehen in der Tradition des polnischen Judentums.» Für Hersberger ist angesichts dieser Eigentumssituation eine klare, transparente Governance zentral: «Besonders wichtig sind klar geregelte Entscheidungsprozesse und eine ausgewogene Zusammensetzung des Stiftungsrats. Das schafft die Grundlage für eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen öffentlichen und privaten Partnern.» Auch das Gutachten empfiehlt eine breit abgestützte Trägerschaft mit lokalen und internationalen Partnern wie dem Leo-Baeck-Institut oder der Nationalbibliothek Israels.
Die Stiftung ist damit weit mehr als ein konservatorisches Vorhaben. Sie steht exemplarisch für den Umgang mit geraubtem Kulturgut, für rechtliche und politische Verantwortung, für Fragen der Finanzierung und Zukunftsfähigkeit und nicht zuletzt für die Bedeutung jüdischer Bildung in Europa.