briefe von der front 05. Sep 2025

In den Strom der Sprache eingetaucht

Historiker, Aktivist und Forscher Adam Raz (abgebildet) verfasste gemeinsam mit dem Soziologen Assaf Bondy das «Lexikon der Brutalität», welches Ausdrücke sammelt, die seit dem 7. Oktober die Psyche…

In seiner Serie «Briefe von der Front» spricht der israelische Filmemacher Ari Folman mit Historiker Adam Raz über sein «Lexikon der Brutalität».

tachles: Unser Interview findet über Zoom statt. Sie haben Israel soeben verlassen und sind nach Berlin gezogen. Weshalb?
Adam Raz: Weil ich nicht mehr in Israel leben kann. Ich kann nicht durch die Strassen gehen und Restaurants voller Menschen sehen, Bars in ausgelassener Stimmung, ein Leben, als wäre nichts geschehen. Es macht mich buchstäblich wahnsinnig, während der Krieg weitergeht, die Geiseln in Gaza sterben und der Völkermord an den Bewohnern Gazas weitergeht und immer tiefere Spuren hinterlässt. Deshalb habe ich meine Familie vorübergehend nach Berlin gebracht.

Wie entstand die Idee zu diesem Buch, einem Lexikon, das sich der Sprache selbst widmet?
Letztendlich beteiligt sich vielleicht ein Prozent der Bevölkerung physisch am Krieg. Der Rest ist damit beschäftigt, darüber zu reden, dagegen zu demonstrieren, zu streiten. Alle sind in den Strom der Sprache eingetaucht, der den Krieg erzählt. Assaf, mein Co-Autor, und ich verbrachten viel Zeit bei Demonstrationen, zunächst gegen die Justizrevolution, später gegen den Krieg, und wir begannen, die Ausdrücke zu sammeln, die der Krieg selbst hervorbrachte und die zum alltäglichen Sprachgebrauch wurden. Nehmen wir die «Koffer voller Bargeld», die sich auf das Geld beziehen, das Binyamin Netanyahu über Katar weitergeleitet hat, um die Hamas zu stärken und damit sicherzustellen, dass es keinen palästinensischen Partner für den Frieden geben würde. Oder «transfer», Donald Trumps Traum, wenn auch nur für eine Woche, alle Bewohner Gazas zu vertreiben und auf den Ruinen eine Riviera zu errichten. Oder «es gibt keine Unschuldigen in Gaza» ein Ausdruck, der während des Krieges geprägt wurde, um die massenhafte Tötung von Kindern zu rechtfertigen, und der den Glauben vermittelt, dass jedes Kind, sogar jedes Kleinkind in Gaza, entweder ein Hamas-Kämpfer ist oder dazu bestimmt ist, einer zu werden.

Ich möchte Sie bitten, zwei Begriffe aus dem Lexikon für unsere deutschsprachigen Leser näher zu erläutern: «the Gospel» und «Lavendel».
Der Ausdruck «the Gospel» ist fast ironisch. Er bezieht sich auf einen Algorithmus, ein KI-Programm, das für die israelischen Streitkräfte (IDF) eine Datenbank mit Zielen in Gaza zusammenstellt. Dieses Programm befasst sich ausschliesslich mit Gebäuden, mit Immobilien. «Lavendel» hingegen befasst sich mit Menschen.

Bitte erläutern Sie das näher.
Zu Beginn des Krieges, in den benommenen Tagen nach dem 7. Oktober, hatte die Armee kaum Ziele. Innerhalb weniger Tage hatte das Programm 1500 Ziele in Gaza zusammengestellt, die zerstört werden sollten: Gebäude, Waffenlager, Häuser von Hamas-Führern. Als der Stabschef Herzi Halevi diese Datenbank dem Kabinett vorstellte, schrie Netanyahu: «Warum nur 1500? Warum können Sie mir nicht 5000 geben?» Und so generierte «the Gospel» Tausende weitere.

Aber das KI-Programm «Lavendel» ist weitaus komplexer. «Lavendel» erstellt eine Liste von Personen in Gaza, die ermordet werden sollen. Hier kommt ein weiterer Ausdruck aus dem Lexikon ins Spiel: «Kollateralschaden». Könnten Sie erklären, was Sie hiermit meinen?
Nehmen wir an, es gibt einen hochrangigen Hamas-Kommandeur, den Chef des militärischen Flügels. Laut «Lavendel» rechtfertigt seine Eliminierung einen Kollateralschaden von 100 Menschen. Das bedeutet: Befindet er sich in einem vierstöckigen Gebäude, ist es zulässig, das Gebäude zu bombardieren und ihn zusammen mit 100 anderen Menschen zu töten – Kinder, Frauen, ältere Menschen, Zivilisten. Die höchste Zahl wurde für Männer wie Yahya Sinwar festgelegt: 300 Kollateralopfer gelten als zulässig, um ihn zu töten.

Und wer entscheidet über das zulässige Ausmass an Kollateralschäden – der Algorithmus? «the Gospel»?
Nein. Der Algorithmus identifiziert lediglich das Ziel. Die Berechnung der zulässigen Kollateralschäden wird von dem Rang des beabsichtigten Opfers festgelegt. Persönlich möchte ich sagen, dass die Einträge «Giora Eiland» und «Generalsplan», die am Anfang und am Ende des Lexikons stehen, diejenigen sind, mit denen ich dieses bemerkenswerte Werk zusammenfassen würde. Giora Eiland war ein gefeierter israelischer General, der lange Zeit als liberaler Mann der Linken galt. Doch nur wenige Monate nach Ausbruch des Krieges konzipierte er den sogenannten «Generalsplan», zur ethnischen Säuberung in Gaza, der durch Belagerung, Vertreibung und Aushungerung umgesetzt werden sollte. Die Regierung beharrt bis heute darauf, dass sein Plan nie offiziell angenommen wurde, doch in der Praxis tat die Armee genau das. Eiland wurde unterdessen zu einem neuen Nationalhelden in den Fernsehstudios, war ständig auf allen Kanälen zu sehen und wiederholte unermüdlich seine radikale Theorie. Aus diesem Grund verdienten er und sein Plan einen besonderen Eintrag in unserem «Lexikon der Brutalität».

Die unvermeidliche Frage: Glauben Sie, dass alles, wie auch Netanyahus Kurs im Krieg, vorhersehbar war?
Absolut nicht. Ich glaube nicht, dass die Hinwendung zu einer Politik des Völkermords, die sich von blosser Massenvernichtung und Massenmord unterscheidet, vorbestimmt war. Der Krieg begann mit massiven Bombardements und weitreichender Zerstörung, aber zu diesem Zeitpunkt deutete nichts auf den Abstieg in den Völkermord hin.

Wo zieht man dann die Grenze zwischen massiver Zerstörung und Völkermord?
Es gibt einen Unterschied zwischen einem Kriegsverbrechen, einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Nach acht Monaten Kampf hatten wir die Grenze zum Völkermord überschritten: Das Ziel wurde explizit, zu töten und zu vernichten. Netanyahu ist nicht mehr Teil der normativen Geschichte des Zionismus, Israels oder sogar des Revisionismus. Er hat sich an ein Bündnis mit extremen Messianisten gebunden, die an ewigen Krieg, Vertreibung und die Kolonisierung des Gazastreifens glauben.

Ich muss widersprechen. Ich glaube, Netanyahu setzt seinen endlosen Krieg im Gazastreifen nicht nur wegen des Drucks von Ben-Gvir und Bezalel Smotrich fort, sondern weil er Todesangst vor dem hat, was danach kommt. Er fürchtet den Moment, in dem sich Gaza für die Journalisten öffnet und die Welt die Verwüstung sieht, die er angerichtet hat.
Ich sehe das anders. Bis zum 7. Oktober war Netanyahu eine Art Thatcherist, ein Anhänger der liberalen Diktatur. Er betrachtete die bürokratischen Institutionen des Staates als Hindernisse. Er war schon immer ein Mann, der Friedensabkommen und Teilungen ablehnte. Aber jetzt versucht er, die israelische Gesellschaft selbst zu verändern, sie in Blut zu ertränken und den Staat und alle seine Bürger unwiderruflich mit den in Gaza begangenen Verbrechen zu verbinden.

Glauben Sie, dass Netanyahu sich der begangenen Verbrechen bewusst ist? Oder leugnet er sie völlig?
Er ist umgeben von Loyalisten, Männern wie Ron Dermer. Er erhält zweimal täglich Geheimdienstberichte, nicht einmal pro Woche. Er weiss genau, was in Gaza vor sich geht. Und hier werde ich Sie überraschen: In Gaza herrscht kein Krieg mehr.

Kein Krieg? Was dann?
Es herrscht Völkermord. Vor zwei Wochen erklärte die IDF selbst, dass in Beit Hanoun nur noch fünf Hamas-Kämpfer übrig waren, denen zwei vollständige Divisionen israelischer Truppen gegenüberstanden, also etwa 1000 Soldaten gegen fünf. Das ist kein Krieg; es gibt keinen Feind, gegen den man kämpfen könnte. Es gibt nur Hunger und die Auslöschung der Bewohner Gazas. Eine solche Kampagne wird an keiner Militärakademie gelehrt. Netanyahu möchte, dass der Nahe Osten ein Pulverfass bleibt. Solange er Premierminister ist, wird es keine pragmatische oder fortschrittliche Lösung des Konflikts geben.

Aber was ist dann der grosse Unterschied zwischen ihm und Naftali Bennett, Jair Lapid, Benny Gantz oder Avigdor Lieberman? Auch sie haben keine wirkliche Lösung, sondern nur die Bewältigung des Konflikts.
Ich stimme dem nicht zu. Eisenkot verfasste vier Monate nach Kriegsbeginn ein Memorandum, in dem er einen Plan zur Beendigung des Krieges darlegte: einen Gefangenenaustausch, die Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde oder der Golfstaaten zur Verwaltung des Gazastreifens. Das war vor anderthalb Jahren. Wären Gantz und Eisenkot geblieben, gäbe es keine Hungersnot, keine Erklärung der Uno, dass der Gazastreifen die Hungerstufe fünf erreicht habe. Netanyahu strebt einen absoluten Sieg an, aber so etwas gibt es nicht. Der wahre Sieg liegt in der Einigung, in dem, was nach der Einstellung der Feindseligkeiten folgt. Aber Netanyahu will keine neue Ordnung. Er will einen endlosen Krieg, einen Krieg ohne Ende, denn nur so kann er seine Macht behalten.

Was will er also – eine Militärregierung in Gaza?
Nein. Das will er nicht. Das wäre ruinös teuer. Aus seiner Sicht ist es viel besser, weiterzukämpfen. Die Armee selbst schätzt, dass die Besetzung Gazas und der Abbau seiner gesamten Infrastruktur zwei Jahre dauern würden. Es bleibt Zeit. Was wir hier erleben, ist vielleicht beispiellos in der Weltgeschichte: Das gesamte israelische Sicherheitsestablishment, ehemalige Chefs des Shin Bet, ehemalige Mossad-Chefs – alle sagen, der Krieg muss beendet werden. Nur Netanyahu möchte, dass er weitergeht.

Und wie wird er enden? Niemand wird Israel echte Sanktionen auferlegen, nicht einmal wirtschaftliche.
Ironischerweise könnte vielleicht nur dieser gestörte Mann Donald Trump eines Morgens verkünden: «Sie beenden den Krieg heute. Punkt. Ab morgen stelle ich die Militärhilfe für Israel ein.»

Und würde das eine neue Ära einläuten?
Nein. Derzeit gibt es keine Aussicht auf ein Friedensabkommen. Das Vertrauen ist auf beiden Seiten zusammengebrochen. Was wir brauchen, ist Zeit: zehn, 20 Jahre ohne Gewaltzyklen. Nur dann wäre ein Abkommen denkbar. 

Ari Folman