ISRAEL 05. Sep 2025

Netanyahus Krieg

Einwohner von Gaza-City verlassen auf Aufforderung der israelischen Armee die Stadt.

Die israelische Regierung treibt die Armee zu einer Eroberung von Gaza-Stadt – gegen den Rat der Generäle, gegen die Bedenken der Experten und entgegen der öffentlichen Meinung.

Es wird ein Krieg, wie Israel ihn zuvor noch nicht geführt hat. Denn nicht die Umstände befehlen die Eroberung Gazas, sondern die Regierung. Gegen den klaren Willen der öffentlichen Meinung. Gegen den Rat der eigenen Armeeführung. Was in fast zwei Jahren Krieg bislang nicht gelang, soll die Armee jetzt doch noch schaffen: den umfassenden Sieg über die Hamas-Terroristen.

Der wortgewandte Binyamin Netanyahu sucht derzeit nach neuen Worten. Auch diese haben sich im langen Krieg abgenutzt, wie die Armee. Darum «umfassend» statt «total», «Einnahme» statt «Eroberung». Nur für «Geiselbefreiung» und «Kriegsende» hat Netanyahu noch keinen Ersatz gefunden.

Kameradschaft statt Vaterland
Letzten Dienstag gab es für Zigtausende Israelis im Kampfalter brüllende Begrüssungen, knochenbrechendes Schulterklopfen und klammernde Umarmungen. Fünf Reserve-Brigaden kamen dem «Befehl 8» nach – dem Stellungsbefehl für Reservisten.

Dass sie ihn befolgten, liegt vor allem an den Kameraden, die man nicht im Stich lässt. Fahne, Volk und Vaterland folgen erst mit Abstand. Die Reservisten sollen reguläre Einheiten an Nordgrenze und Westjordanland ablösen, damit diese für die Eroberung von Gaza freiwerden.

Viele Reservisten haben seit dem 7. Oktober bereits Hunderte Diensttage geleistet. Doch die Regierung hat die knappen Entschädigungen gekürzt – und vor allem den Front-Kodex gebrochen: Verwundete und Entführte wurden zurückgelassen. Die Geiseln sitzen nun seit 700 Tagen in den Verliesen der Hamas. Mit jeder Kriegsausweitung steigt ihre Todesgefahr. Für die Reservisten bleibt die Befreiung der Geiseln das wichtigste Motiv. Für die Regierung aber der Krieg selbst. Netanyahu spricht nicht mehr vom «Sieg», sondern vom «E

ntscheidungsschlag». Die Armeechefs warnen jedoch: Die Eroberung Gazas könne zur Todesfalle werden – für Geiseln, Soldaten und Zivilisten. Doch im Kabinett wächst der Druck, schneller zu handeln. Armeechef Eyal Samir, aus dem Ruhestand zurückberufen, gilt manchen bereits als Bremsklotz – und möglicher Sündenbock. Noch zeigt sich Samir loyal. 40 Prozent Gazas stehen nach seinen Angaben bereits unter israelischer Kontrolle. Bevor der Belagerungsring enger gezogen werden kann, sollen Zivilisten evakuiert werden. Doch fast eine Million Menschen verharren noch immer in Gaza, viele zurückgekehrt nach der ersten Evakuierung. Die Hamas versucht mit Aufrufen und Drohungen, die Menschen am Auszug zu hindern, sie müsen als ihre Schutzschilde dienen.

Druckmittel Israels
Israel hat bislang die drakonischsten Massnahmen nicht eingesetzt: Wasserabsperrungen für die Stadt und Umleitungen der Hilfstransporte. Sollte es dazu kommen, würde die Hamas alle Opfer abermals Israel anlasten. Befürchtet wird zudem, dass Geiseln in die Tunnel unter Gaza-Stadt verlegt werden, als letzte Abschreckung gegen die Offensive.

Die Armee will Schritt für Schritt vorgehen, um im Strassenkampf Verluste zu vermeiden. Ohne Evakuierung droht jedoch, wie es der US-Präsident nannte, die «Hölle von Gaza». Donald Trump zeigt sich unentschlossen: einerseits für die Offensive, andererseits um sein eigenes, immer wieder versprochenes Kriegsende nicht auf Monate zu verzögern.

Norbert Jessen