Nach dem Iran-Krieg steht Premier Netanyahu vor einer wichtigen Entscheidung – seine Antwort könnte die Zukunft Israels bestimmen, und seine eigene dazu.
Das Ende des Iran-Krieges markiert das Ende einer Ära. Auch wenn im Augenblick noch nicht klar ist, ob das iranische Atomprogramm komplett zerstört wurde und wie lange es dauern könnte, bis Teheran doch noch eine Bombe bauen kann, so ist auf alle Fälle klar, dass seine Machtstrukturen nach aussen zerstört sind. Iran erwies sich militärisch als Papiertiger, was nicht nur die arabischen Staaten sehen konnten, sondern auch die Proxys der Mullahs, die sich – ebenfalls von Israel beinahe vollständig zerstört – auffallend zurückhielten und nicht in den Krieg mit einstiegen. Insofern dürften sich die Machtstrukturen im Nahen Osten verändern – eine Situation, die Israel möglicherweise für sich im besten Fall nutzen, im schlechtesten Fall negativ ausnutzen könnte. Die Einschläge und die Auswirkungen der iranischen Angriffe waren heftig, keine Frage, aber sie blieben weit unter den negativen Erwartungen des Militärs, das in seinen Planspielen zunächst mit wesentlich schlimmeren Konsequenzen für die israelische Bevölkerung gerechnet hatte. So feuerte Iran 550 Raketen und 1000 Drohnen auf Israel ab, 31 Raketen und 1 Drohne schlugen in bewohntes Gebiet ein, dabei wurden 28 Menschen getötet, 3238 wurden verletzt, davon 23 schwer, 111 wurden moderat und 2933 zum Glück nur leicht verletzt. Mehr als 9000 mussten aus ihren Wohnungen und Häusern evakuiert werden wegen Zerstörung, Beschädigung oder Einsturzgefahr. Trotz schrecklicher Bilder aus israelischen Städten und Dörfern, die man so noch nie gesehen hatte, verlief der Krieg für Israel glimpflich. Das muss man sich immer wieder klarmachen. Das Raketenabwehrsystem konnte 90 % der iranischen Geschosse abfangen, eine hohe Rate, denn man weiss, dass eine 100-prozentige Sicherheit nicht existiert. Die Machtstrukturen im Nahen Osten scheinen sich also verschoben zu haben. Was wird Israel nun tun? Wie wird sich Israel in der Region positionieren wollen oder können? Der Blick wird erst mal auf die israelische Innenpolitik gerichtet sein, dort müssen Fragen beantwortet werden.
Im Moment vorne
Viel wird davon abhängen, was Israels Premier machen will. Schon konnte man aus dem Umfeld Netanjahus hören, man erwäge vorgezogene Neuwahlen, um das Momentum der Stunde zu nutzen. In Umfragen hat Netanjahu nach dem erfolgreichen Krieg zum ersten Mal die Nase vorn, sein Konkurrent Naftali Bennett käme nur noch auf Platz zwei, wenn es jetzt Wahlen gäbe. Aus diesem Grund könnte sich Netanjahu veranlasst sehen, seine Strategie so auszurichten, dass er bei Neuwahlen noch bessere Chancen erhält, als er sich sowieso bereits ausrechnet. Und das hiesse, er würde den Gaza-Krieg beenden, die restlichen israelischen Geiseln nach Hause holen und dann noch, mit Hilfe von Donald Trump, dem das mit Sicherheit sehr willkommen wäre, ein Normalisierungsabkommen mit den Saudis schliessen. Das könnte Trump den von ihm heiss ersehnten Friedensnobelpreis bringen und Netanjahu einen triumphalen Erfolg und eine weitere Amtszeit als Premier auf weitere vier Jahre. Sein Traum – für die liberalen Israelis jedoch ein Albtraum. Denn sie fürchten, dass Netanjahu sich dann, völlig unangefochten, daran machen könnte, die Reste der liberalen Demokratie endgültig zu zerstören und ein autokratisches Regime zu errichten.
Doch ob es dazu kommen wird, ist noch nicht ausgemacht, selbst wenn er die Wahlen gewönne. Möglicherweise wird er sich der Rechtsextremisten entledigen wollen, die ihn bis jetzt in der Hand haben, da sie ihm ständig mit dem Austritt aus der Koalition drohen, falls er militärisch und politisch nicht das tut, was sie wollen. Nach Umfragen würde zwar Itamar Ben Gvir wieder in die Knesset gewählt werden, Bezalel Smotrich mit seiner Partei jedoch nicht. Eventuell wird Netanjahu – wenn er denn die Wahlen gewinnt – auch Ben Gvir nicht mehr für eine Koalition benötigen, sondern sich dann ganz bewusst mit den moderateren rechten Parteien zusammentun, die ihm am Ende wohl die Gefolgschaft nicht verweigern werden, da Israel sich keine weitere politische Krise leisten kann. Das Land ist ausgelaugt, militärisch erschöpft, moralisch am Boden, wirtschaftlich nicht zerstört, aber doch nicht mehr dort, wo es vor dem 7. Oktober war.
Gesellschaftliche Spaltung
Vor allem muss die israelische Gesellschaft wieder zusammenwachsen, ihre tiefe innere Spaltung überwinden. Wird Netanjahu, der so oder so am Ende seiner einzigartigen Karriere steht, neben dem Sieg über den Iran und die «Achse des Widerstands» auch noch das Interesse haben, Israel im Inneren wieder stark zu machen? Es wäre die logische, die einzig richtige Entscheidung für einen Mann, der stets von sich behauptet hat, dass er das jüdische Volk vor einem zweiten Holocaust bewahren will. Aber muss er nicht dann auch das jüdische Volk wieder einen? Ob er das kann, ist eine ganz andere Frage. Aber es wäre mit Sicherheit die Vollendung eines grossen Zieles.
Deal mit der Justiz?
Doch noch etwas anderes kann geschehen. Dass Netanjahu sich sagt: Ich höre jetzt auf. Ich mache einen Deal mit der Justiz, ziehe mich aus der Politik zurück als strahlender Sieger und als derjenige, der Israel Sicherheit und eine neue Zukunft gebracht hat.
Oder es kann – als schlechtestes Szenario – natürlich auch sein, dass ihm sein Sieg und Erfolg endgültig zu Kopf steigen. Er lässt sich wieder wählen und macht mit seiner Innenpolitik ganz genau dort weiter, wo er wegen des Krieges aufhören musste. Also die bewusste Spaltung der Gesellschaft vorantreiben, das Oberste Gericht aushebeln, eine illiberale Justizreform durchboxen und damit den Staat Israel in etwas völlig Neues verwandeln, was aber langfristig katastrophalere Folgen für die Zukunft des Landes bedeuten könnte als jeder Feind von aussen.
Man wird sehen. Und ja, es gibt immer noch die Möglichkeit, dass Netanjahu die Wahlen nicht gewinnt, dass er sie zwar prozentual gewinnt, aber keine Koalition bilden kann, dass er am Ende eine grosse Niederlage einfährt, weil er zu hoch gepokert hat. Doch was auch immer geschieht, es zeigt sich wieder einmal, dass niemand in Israel ein so gewiefter, ausgebuffter und schlauer Politiker ist wie Netanjahu. Das müssen selbst seine politischen Gegner zugeben, wenngleich sie sich wünschen würden, dass er für bessere, höhere Ziele kämpfen würde als in ihren Augen nur für den eigenen Machterhalt, koste es was es wolle.
Der sogenannte Zwölf-Tage-Krieg hat Israels Probleme fürs Erste reduziert, aber mit Sicherheit nicht gelöst. Das Land wird sich rasch wieder seinen eigenen Problemen zuwenden und wird nicht anfangen können zu heilen, bis die Geiseln, tot oder lebendig, wieder daheim sind. Es ist eine Grundvoraussetzung, damit Israel trauern, «schiwa» sitzen und sich dann wieder erheben kann. Die Katastrophe vom 7. Oktober hat Israel einen Aufstieg beschert wie Phoenix aus der Asche. So gut wie alle unmittelbaren Feinde sind vernichtet. Jetzt muss Israel aufpassen, dass nicht der «innere Feind» das Land und die Menschen vernichtet, jener Feind, der schon in der Thora beschrieben ist: der Bruderzwist.
Netanjahu hat viel dazu beigetragen, dass der Zustand der eigenen Gesellschaft so katastrophal gestört ist. Er könnte jetzt, wenn er denn will, über sich hinauswachsen und all die Risse, die durch die Nation gehen, kitten. Es wäre politisch wahrscheinlich seine letzte, vielleicht sogar grösste Herausforderung. Wenn er sich dazu entscheiden würde, könnte er als Gigant in die Geschichte des jüdischen Staates eingehen.