Zwei Jahre nach dem Hamas-Massaker kämpft Israel mit tausenden Toten, enormen Kosten und wachsender Kriegsmüdigkeit – nun ist die neue Gaza-Offensive in vollem Gange.
Fast jeden Morgen lautet die erste Meldung in den Morgennachrichten Israels: «Der Name eines weiteren Gefallenen wurde zur Veröffentlichung freigegeben …» Gefolgt von einem Namen, dem Alter und einem kurzen Lebenslauf. 898 Soldaten sind seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 gefallen. 454 davon im Krieg, der dem Massaker folgte. Eiserne Schwerter. Zusätzlich kommen noch über 24 000 Verwundete. 815 Zivilisten wurden im Krieg gegen die Hamas, die Hisbollah, die Huthis und gegen den Iran getötet und auch durch Attacken von Terroristen im Westjordanland. Jede Zahl eine Seele. Ein hoher Preis an Blut und Trauer.
Kommen hinzu die toten Palästinenser von Gaza. Um die 60 000 und der dieser Zahl immer beigefügte Zusatz, dass sie vom von der Hamas gesteuerten Gesundheitsministerium (GHM) herausgegeben wurde, ist in diesem Krieg nicht so einschränkend wie in früheren Waffengängen. Auch unabhängige israelische Untersuchungen bestätigten die Zahlen aus Gaza mehrfach. Das GHM basiert seine Schätzungen auf die Zahl der Einlieferungen in die Krankenhäuser und das Einwohnermeldeverzeichnis. Doch gibt es eine wachsende Dunkelziffer nicht gemeldeter Toter und Vermisster, die dabei unberücksichtigt bleibt.
Hamas oder nicht?
Strittig bleibt aber die Aufteilung dieser Zahlen zwischen bewaffneten Kämpfern und palästinensischen Zivilisten. Wie auch die der mutmasslichen Hungertoten. Wobei die Zahl der palästinensischen Zivilisten in diesem Krieg deutlich höher ausfallen dürfte. 90 Prozent sind es in palästinensischen Einschätzungen, an die 70 Prozent in unabhängigen Studien, 53 Prozent nach Binyamin Netanyahu, dessen Angaben auch in Israel eher skeptisch aufgenommen werden.
In den vergangenen Gaza-Offensiven dauerte es lange, bis die Zahl der getöteten Kämpfer genau feststand. Nach etwa einem Jahr lag sie vor: Wenn zum jährlichen Hamas-Gedenktag die Namen der Hamas-Toten offiziell aufgelistet werden. Dabei gab es keine Verwechslungen mit Zivilisten. Weder gewollt noch unbeabsichtigt. Die so zu errechnende Zahl lag überraschend nah an den israelischen Schätzungen während der Kämpfe. Was aber nach einem Jahr für die Medien nicht mehr interessant war. Sicher ist: In diesem Krieg fällt das Verhältnis Zivilisten/Bewaffnete deutlicher zuungunsten der Zivilisten aus.
Materialkosten
Neben dem Preis an Menschenleben nehmen sich die materiellen Kosten nahezu bedeutungslos aus. Doch in Israel, wo die Dauer vergangener Kriege in Tagen gezählt wurde, sind nach fast zwei Jahren die ökonomischen Auswirkungen dieses Krieges immer spürbarer. Die Preise steigen. Für jeden Geldbeutel. Obwohl die Inflation in den letzten Wochen nicht mehr so stark wie befürchtet anstieg, liegt sie mit 3,4 Prozent weiter über den im ursprünglichen Haushalt eingeplanten 1 bis 3 Prozent. Krieg kostet.
Und wie. Noch in dieser Woche musste die Regierung ihren Haushalt um fast 7 Milliarden Franken erweitern. Zur Finanzierung der unumgänglichen Mehrausgaben für die Verteidigung. Alle anderen Ministerien mussten dafür eine Querkürzung von 3,3 Prozent hinnehmen. Im Vergleich zu 2022 sind Israels Verteidigungsausgaben 2025 mit fast 55 Milliarden Franken doppelt so hoch. Die 12 Milliarden Franken der US-Finanzhilfe für militärische Mehrausgaben nicht mitberechnet.
Halbe Milliarde pro Woche
Auf fast 500 Millionen Franken werden die wöchentlichen Kriegsausgaben von unabhängigen Experten geschätzt. 6 Prozent des wöchentlichen BIP. Finanzminister Bezalel Smotrich hat seine eigene Schätzung von «nur» 200 Millionen. Noch ein ganzes Jahrzehnt wird der Druck der Verteidigungsausgaben auf das BIP bei 10 Prozent liegen.
Durch die Rekrutierung der Reserve sank das Arbeitskraftangebot Israels schon Ende 2023. Immer noch steht es bei 60 Prozent – weit niedriger als vor dem Krieg. Israel hat zu wenig Geld und zu wenig Manpower, um sich zwei Jahre Krieg leisten zu können.
Doch ausgerechnet jetzt will die Regierung zu den bereits einberufenen 60 000 Reservisten weitere 50 000 mobilisieren. So erfordert es die von der Regierung angekündigte Eroberung von Gaza-Stadt. Die dazu notwendige Vorbereitungszeit soll jetzt sogar noch verkürzt werden. Die Mobilisierung wird nicht leicht. Drängten sich im Oktober 2023 nach dem Massaker die Freiwilligen vor den Einberufungszentren, werden es derzeit immer weniger. Die Kluft zwischen den ausgesandten Stellungsbefehlen und den letztlich in Uniform antretenden Reservisten wird immer grösser. Der Sinn des Krieges ist nicht mehr so schlüssig wie vor zwei Jahren. Gaza-Stadt war bereits über Monate unter der militärischen Kontrolle der IDF. Israelische Soldaten drangen, wenn nötig, überallhin vor. Auch wenn dies nicht «Eroberung» genannt wurde.
Viele der jetzt erneut einberufenen Reservisten waren 2024 mit dabei. Seit 2023 dienten sie bereits mehrere Monate. Es wird immer schwerer für sie: Frau und Kinder machen Druck. Der Arbeitsplatz wackelt. Freiberufliche verlieren nicht nur Einnahmen, sondern auch Kunden. Und nach den Namen der Gefallenen melden die Nachrichten dann auch noch die Initiative zum neuen Rekrutierungsgesetz, das Zigtausende junge Schriftgelehrte von der Wehrpflicht freistellen soll. Gleich im Alter. Ungleich in der Pflicht.
Wirtschaftliche Konsequenzen
Schon jetzt wissen die Experten – auch die im Finanzministerium –, dass 2026 Steuererhöhungen unvermeidlich sind. Trotz der drastischen Kürzung öffentlicher Ausgaben: Noch längere Wartezeiten in Krankenhäusern, mittellose Schulen und Universitäten, weniger öffentlicher Nahverkehr, weniger Wohlfahrt, weniger Renten. All das in einem Land, das jetzt schon in der Oberliga der teuersten Länder der Welt ganz weit vorne mitspielt.
Eine Welt, die immer ungnädiger auf Israel schaut. China hat schon jetzt auf leise Art Sanktionen verhängt. Plötzlich gibt es «Lieferschwierigkeiten» für Waren in Richtung Israel. Vor allem der Hightech-Sektor ist betroffen. Wobei die drohende Abwanderung von IT-Experten bislang nicht so apokalyptisch ausfällt, wie viele befürchteten. Doch der Trend geht auch hier aufwärts. Soll heissen abwärts.
Und wirklich jeder weiss: Es geht um den Bestand der Regierungskoalition. Um den Amtserhalt eines Mannes, der bereits wegen Korruption angeklagt vor Gericht steht. Der aber erfolgreich jeden Versuch sabotiert, sein Versagen am und vor dem 7. Oktober 2023 von einem staatlichen Untersuchungsausschuss durchleuchten zu lassen. Auch die angekündigte Eroberung Gazas dient letztlich nur dazu, Zeit zu schinden. Notfalls auch mit Hilfe einer neu sortierten Koalition. Benjamin Gantz steht wieder bereit, melden die Medien. Wenn das alte Kabinett nicht mehr die einsamen Entscheidungen nickend absegnet, muss ein neues her. Nicht zu vergessen: Israels oberster Kriegsherr ist nicht der Premier, sondern die Regierung.
Es geht nicht um den Krieg. Dessen Kosten werden zwar durch die Eroberung Gazas noch einmal um 40 Milliarden Franken steigen. Durch die damit verbundene Pflicht, eine militärische Verwaltung aufzubauen. Doch die seit zwei Jahren immer wieder angekündigte «Entmachtung der Hamas» und die «Befreiung aller Geiseln» bleiben aus. Diese Aufgaben konnten militärisch nicht erreicht werden. Und nichts deutet darauf hin, dass diese ursprünglichen Kriegsziele diesmal durchgesetzt werden können. Sind sie doch ein Widerspruch in sich. Entweder. Oder. Ohne eine vollständige Besetzung Gazas gibt es keine Entmachtung der Hamas. Doch Eroberung führt zwangsläufig zum Tod der Geiseln.