Medien 05. Sep 2025

«Mir sejnen do!»

«Undzer Weg» ist da: begierig saugten die jungen Leser die neuesten Nachrichten auf.

In den Nachkriegsjahren florierte die jiddische Presse, welche die Vielfalt jüdischen Lebens widerspiegelte, doch der Aufstieg des Zionismus besiegelte ihr Ende.

Die Zeitung «Jidisze Cajtung» prophezeite vor rund 80 Jahren: «Wenn der jüdische Historiker Material braucht, um die Geschichte unserer Generation einzuordnen, wird er sicher diese einzige unverfälschte Quelle nutzen: die ‹Scheerit Haplejta›-Presse, denn dort wird er alles finden». Das Blatt wurde von Schoah-Überlebenden herausgegeben und erschien erstmals am 8. Oktober 1945, damals noch unter der Bezeichnung «Landsberger Lager Cajtung». Ausgerechnet in der ehemaligen «Stadt der nationalsozialistischen Erziehung», einem der Wallfahrtsorte des Nationalsozialisten-Regimes, dem Ort, an dem Adolf Hitler seine Hetzschrift «Mein Kampf» verfasst hatte.

Gedruckt wurde die Zeitung auf den Rotationsmaschinen der Landsberger Verlagsanstalt Martin Neumeyer. Anfangs, in Ermangelung hebräischer Lettern, gesetzt mit lateinischen Buchstaben nach polnischer Phonetik. «Auf den ersten Blick war es eine Enttäuschung, dass sie nicht in unserer geliebten, heiligen Schrift verfasst wurde», bedauerte ein Journalist und fügte lobend hinzu: «Der Inhalt aber überzeugte umso mehr.»

Eine Vielfalt jiddischer Zeitungen
Mit «Dos fraje Wort» und «Undzer Weg» erschienen allein im Oktober 1945 in Bayern zwei weitere jiddischsprachige Publikationen. Das erste regelmässig produzierte Blatt, «Undzer Sztyme», war für die britische Besatzungszone produziert. Die erste, zwölf Seiten umfassende Ausgabe, noch mit der Hand auf Matrizen geschriebene und vervielfältigte Nummer, erschien am 12. Juli 1945.

In den ersten drei Nachkriegsjahren lebten bis zu 200 000 Juden, die sich mit dem hebräischen Begriff «scheerit haplejta» («Rest der Geretteten») bezeichneten, im besetzten Westdeutschland. In dieser Zeit entwickelte sich in den zahlreichen jüdischen Displaced Persons Camps, etwa in Landsberg, Feldafing, Föhrenwald, Pocking oder auch Frankfurt und Stuttgart, eine Renaissance des nahezu vernichteten osteuropäischen Lebens: eigene Schulen, Sportvereine, Parteien, Theater und eben auch Zeitungen wurden gegründet. Der Wunsch nach einem öffentlichen Medium, um sich Gehör zu verschaffen, und der Durst nach Informationen führten dazu, dass in den darauffolgenden Jahren die Zahl der jüdischen Zeitungen und Magazine auf rund 150 Titel anwuchs. Die Namen der zumeist jiddischsprachigen Blätter, die nach und nach auch Texte in hebräischen Lettern enthielten und die Wünsche und Hoffnungen sowohl der Leser als auch der Macher widerspiegelten, waren oft Zustandsbeschreibungen, wie die Titel «Undzer Mut», «Undzer Hofenung», «Der naje Moment» verdeutlichen, oder gaben Ziele an: «Tsum Zig» oder «Ba Derech» («Auf dem Weg»).

Authentisch reflektierten und thematisierten die Zeitungen aber auch das bunte politische und soziale Alltagsleben in den «Wartesälen» zur Emigration. Neben den Informationen über den Lageralltag berichteten sie über die Entwicklung in Palästina, internationale Politik sowie die juristische «Aufarbeitung» der nationalsozialistischen Verbrechen. Wichtig waren auch die vielen Suchanzeigen nach vermissten Angehörigen. Daneben stand die Rückbesinnung auf die zumeist osteuropäische jüdische Kultur und Literatur im Fokus. Nahezu jede Ausgabe enthielt feuilletonistische Texte, Gedichte und Rezensionen sowie Reportagen über die Theaterproduktionen, die jiddische Klassiker, wie etwa die von Scholem Alejchem, auf die Lagerbühnen brachten. Das vernichtete osteuropäische Schtetlleben war in allen Camps präsent – jedoch stets verbunden mit einem positiven Blick in die Zukunft in einem eigenen Staat.

Dem Zionismus zugewandt
Die jiddischen Texte drückten aber auch die nationale Zugehörigkeit zu einem jüdischen Volk aus. Man war nicht mehr Pole, Russe, Tscheche oder Ungar, sondern Jude. Die Blätter waren zudem streng zionistisch ausgerichtet. Das Geschehen in Palästina, etwa der Untergrundkampf der jüdischen Miliz Hagana und ihre Bemühungen, die jüdische Einwanderung ins Gelobte Land zu forcieren, nahmen daher breiten Raum ein. Immer wieder beharrten die Journalisten auf einer sofortigen, unbegrenzten freien Einreise aller Juden nach Erez Israel, dem Land Israel. «Wir wollen unsere eigene Heimat. Wir haben ein Recht darauf», forderte «Unterwegs» im April 1946. «Wir hoffen, freie Bürger im Land unserer Vorväter, in Palästina zu werden.»

Nach Ansicht von Robert Weltsch, dem langjährigen Chefredakteur der bis 1938 in Deutschland erschienenen zionistisch orientierten «Jüdischen Rundschau» waren die jüdischen Zeitungen der Überlebenden «das einzige Werkzeug, das in einer fast seelsorgerisch zu nennenden Rolle den Beraubten und Verfolgten, den Erniedrigten und Beleidigten Mut zusprechen und ihnen ein neues Lebensgefühl geben konnte.»

Nach Umbenennung der Zeitung in «Jidisze Cajtung» firmierte das Blatt auch als «Algemejne-Nacjonaler Organ», das zeitweise in einer Auflage von bis zu 16 000 Exemplaren zu einem wichtigen überregionalen Sprachrohr der «scheerit haplejta» wurde. Die Zeitung hatte wegen ihrer journalistischen Qualität in der Displaced Persons Community grosses Ansehen und war meinungsbildend. Mit der Gründung des Staates Israel und der damit verbundenen Abwanderung der Juden in ihr neues Heimatland war auch das Ende der jiddischen Presse besiegelt. Die letzte «Jidisze Cajtung» wurde im Dezember 1948 ausgeliefert. Nur «Undzer Weg» aus München erschien noch weitere zwei Jahre und wurde im Dezember 1950, nach insgesamt 290 Ausgaben, eingestellt. In den jiddischen Lagerzeitungen im «Land der Täter» kam zum letzten Mal «spontan das jüdische Leben der Vorkriegszeit zum Ausdruck», schreibt die US-amerikanische Historikerin Ruth Gay. «Aber zugleich spürte man, dass die jüdische Geschichte eine neue Richtung einschlug», die in der Parole «Dos letste mol in Golus» («golus», jiddisch «Diaspora») ihren Ausdruck fand.

Jim G. Tobias