Nicht erst zum 80. Jahrestag der Befreiung zeigt sich, dass Erinnerungspolitik immer dynamisch ist – und damit anfällig für Instrumentalisierung.
Mitten im Frühling werden in den Niederlanden im Familien- und Freundeskreis gerne Pläne geschmiedet: Ende April ist der Geburtstag des Königs Anlass zu landesweiten Strassenpartys, kurz darauf wird beim «Totengedenken» am 4. Mai der Opfer des Zweiten Weltkriegs gedacht, und einen Tag später wird die Befreiung von der deutschen Besatzung gefeiert. Im Mittelpunkt der Diskussionen steht in diesen Tagen – nicht zum ersten Mal – die Erinnerung an die Kriegsopfer, denn, so titelt «NRC Handelsblad»: «Eine Gruppe ehemaliger Beamter und Diplomaten will bei einem alternativen Totengedenken auch an Gaza erinnern.»
«4 mei inclusief» lautet das Motto des «Alternatieve nationale dodenherdenking» («Alternativer nationaler Gedenktag»), der laut Website am Sonntag in Den Haag, «der Stadt des Friedens und internationalen Rechts», stattfinden wird. Der Name ist angelehnt an die offizielle, nationale Gedenkveranstaltung auf dem Dam-Platz im Zentrum Amsterdams, die live im öffentlich-rechtlichen TV ausgestrahlt wird. Daneben gibt es nicht nur in jeder Stadt, sondern oft auch in Vierteln und Nachbarschaften lokale Gedenkveranstaltungen.
«Alternatives Gedenken»
In deren Zentrum, so das Komitee «Natio-naal Comité 4 en 5 mei», stehen «die Opfer des Zweiten Weltkriegs in Europa und Südostasien» – Indonesien, damals noch die Kolonie Niederländisch-Indien, wurde erst nach dem Krieg unabhängig und war zuvor von Japan besetzt gewesen. «Seit 1961 gedenken wir auch der Opfer von Kriegssituationen und Friedensoperationen, an denen die Niederlande nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligt waren», heisst es weiter in der Erklärung des Komitees. In diesem Jahr will die inklusive Gegenveranstaltung den Inhalt und die Perspektive des Gedenkens erneut erweitern. Entstanden ist sie «durch die Schrecken des Genozids an den Palästinensern und das folgende Zur-Seite-Schieben von Menschenrechten und internationalem Recht durch den niederländischen Staat», heisst es auf 4meiinclusief.nl, wobei der Völkermord-Prozess gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof noch in vollem Gange ist.
Die Initiatoren, pensionierte Staatsbeamte und Diplomaten, haben das Gedenken «als Bürger und Menschen» organisiert, um es «inklusiv» zu machen und an «Opfer von Genozid, Krieg, Verfolgung und Unterdrückung» zu erinnern. «Denn das ist, finden wir, genau das, was gemeint ist, als wir ‹Nie wieder› gelobten.» An der Amsterdamer Gedenkfeier, in deren Zentrum der Zweite Weltkrieg und die koloniale Vergangenheit stehen, seien Politiker beteiligt, «die keinerlei Aktion unternehmen, um den Genozid an den Palästinensern zu stoppen», was Schmerz, Wut und Trauer im Land auslöse. Diesen Gefühlen will man in Den Haag Raum geben und dazu «Solidarität zeigen mit den heutigen Opfern».
Unmut aus jüdischen Kreisen
Aus jüdischen Kreisen sind die Reaktionen eindeutig. Das Zentrale Jüdische Beratungsorgan (CJO) bezeichnet die Initiative in einer Stellungnahme als «Provokation gegenüber dem, was die Niederlande verbindet, und unserer kollektiven Geschichte». Chanan Hertzberger, der CJO-Vorsitzende, erläutert: «Was wir vor allen Dingen nicht sollten, ist, unser Gedenken zu politisieren. Genau das ist es, was diese Leute planen. Es löst Unmut aus, spaltet die Gesellschaft, gerade dann, wenn wir einmal im Jahr unsere Unterschiede beiseitelassen und sehen, wie alle bereit sind, über den eigenen Schatten zu springen.»
Der renommierte Journalist Frits Barend nannte das alternative Gedenken gar «eine reine Äusserung von Antisemitismus». Im Gespräch mit «De Telegraaf» nennt er unter anderem die Kriege in Afghanistan, Irak, Sudan und Tschad und kritisiert: «Bei diesen Konflikten kamen Tausende Menschen um, aber ich habe von diesen Leuten nichts gehört.» Den Veranstaltern hält er vor, das Gedenken zu «kapern» und fordert «einen einzigen Tag im Jahr», um der ermordeten Jüdinnen und Juden, der Widerstandskämpfer und jener, die Verfolgte versteckten, zu gedenken.
Interessanterweise weicht er, dessen Eltern und Bruder versteckt in der Provinz den Holocaust überlebten, damit selbst von der offiziellen Gedenk-Richtlinie ab. Damit weist Barend auf ein bedeutendes Element der Diskussion: Die Veranstaltung zielt laut Definition zwar auch, aber nicht nur auf die 104 000 ermordeten niederländischen Jüdinnen und Juden, die vielfach für ein Kopfgeld verraten wurden und prozentual mehr waren als irgendwo anders in Westeuropa.
Die Wechselwirkung zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Dazu passt eine auffällige rhetorische Begebenheit: Im niederländischen Diskurs ist allgemein von «oorlog», also «Krieg», die Rede. Selbst wenn es ausdrücklich um den Holocaust geht, bleibt es beim niederländischen Terminus. Dieser Gewichtung entsprechen Schweigen und Desinteresse, die Überlebenden bei ihrer Rückkehr aus den Nazi-Lagern entgegenschlugen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle begann spät, Entschuldigungen von König Willem-Alexander und Ex-Premier Rutte kamen erst in den letzten Jahren, die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema hat sich den beiden erst kürzlich angeschlossen.
Diese Anmerkungen sind wichtig, um zu verstehen, dass die Erinnerung schon zuvor nicht ohne Diskussionen verlief und nicht frei von Abgründen war. Kontrovers war etwa die Frage, ob es nach Jahrzehnten partnerschaftlichen Friedens nicht an der Zeit sei, die Nachfahren der Besatzer am Gedenken zu beteiligen oder bei lokalen Veranstaltungen am 4. Mai an Gräbern deutscher Soldaten vorbeizudefilieren. Die Einladungen zum Befreiungstag von Ex-Bundespräsident Joachim Gauck 2012 und Angela Merkel 2021 galten als Meilensteine in diesem Prozess.
Auch die Tatsache ist nicht neu, dass auf dem Feld der Erinnerungspolitik Machtkämpfe ausgetragen werden oder aktuelle politische Verhältnisse ihre Reflexion finden. Ersteres zeigte sich zum 75. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung im Konflikt zwischen Russland und Polen, Letzteres aktuell bei der Entscheidung des deutschen Bundestags, seine Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Kriegsendes ohne die Botschafter von Russland und Belarus zu begehen, um ihnen keine Bühne für eventuelle antiukrainische Propaganda zu bieten.
Inhaltliche Verknüpfungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart prägten auch den diesjährigen Jom Haschoah. Die «Times of Israel» berichtete von «schmerzhaften Echos mitten in der Geisel-Krise von Gaza». Sie zitiert Kobi Ohel, den Vater der 19-jährigen Geisel Alon, der sich an seinen Grossvater erinnert – ein Holocaust-Überlebender, der nachts gepeinigt und schreiend von seinen Erinnerungen wach wurde. «Eine verrückte Verbindung: der Urenkel meines Grossvaters ist nun entführt in Gaza, ebenfalls ohne Kontrolle über sein Leben.» Auch am diesjährigen «Marsch der Lebenden» in Polen nahmen Geiseln und Angehörige teil, von denen einige eine Verbindung zwischen dem Holocaust und dem 7. Oktober 2023 zogen.
All diese Beispiele illustrieren, dass Gedenken und Erinnerungspolitik nicht im luftleeren Raum stattfinden und dynamisch sind. Sie unterliegen einer komplexen Wechselwirkung von Vergangenheit und Gegenwart, und nicht nur das. Gerade der Blick auf den Holocaust macht deutlich, wie sich die Erinnerung an diesen angesichts des Ablebens der letzten Zeitzeugen verändert. Nicht selten ist die Antwort darauf, den inhaltlichen Fokus zu erweitern und die Brücke zu anderen Genoziden zu schlagen oder, wie es das belgische Holocaust-Museum Kazerne Dossin in Mechelen tut, den Fokus auf «Menschenrechtsverletzungen damals und heute» zu erweitern.
Zwischen Inklusion und Vereinnahmung
Judith Zilversmit, Beilagen-Chefin der Amsterdamer Tageszeitung «Het Parool», kommentierte dies zuletzt in einem Podcast über «Die Zukunft des Gedenkens» wie folgt: «Man kann nicht ein bisschen erweitern. Wenn man erweitert, wird es endlos, und wenn es endlos ist, gedenkt man eigentlich nicht. Ich würde es eher verschmälern. Aber das ist beinahe unmöglich.» Den Fokus des niederländischen Gedenkens will sie daher «beim Zweiten Weltkrieg» lassen, dabei aber den universellen Wert von Demokratie und Freiheit betonen. «Die Leute können dann selbst Verbindungen zu anderen Geschehnissen herstellen.»
Der Prozess der Öffnung bietet einer Vereinnahmung für politische Zwecke Raum. Dabei existiert, wie das aktuelle Beispiel des Gaza-Kriegs zeigt, eine Grauzone zwischen Empörung und Schock über das Leid palästinensischer Zivilisten und dem antisemitischen Narrativ, die Palästinenser als Juden der heutigen Zeit zu sehen und Israel damit in Relation zu den Nazis zu setzen. Ohne Kenntnis der Geschichte antisemitischer Motive und Tropen kann man diesem Narrativ leicht auf den Leim gehen.
Laut Robert Ejnes, Geschäftsführer des Conseil représentatif des institutions juives de France, ist die Instrumentalisierung von Weltkriegs-Gedenken in Frankreich deutlich weniger ein Thema. «Die Veranstaltungen finden auf städtischer Ebene statt, es gibt keine nationalen Zeremonien. Darum wird dies nicht von Aktivisten gekapert», berichtet er. Zugleich werden seitens der linkspopulistischen Partei La France insoumise «die Konzentrations- und Vernichtungslager mit Gaza verglichen».
Die Saat solcher Strategien geht freilich gerade im Kontext von Erinnerungspolitik auf. Bei einer Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald im April sprach etwa eine Teilnehmerin eines Jugendprojekts vom «Genozid» in Palästina – ganz wie die niederländischen Aktivisten vom 4. Mai. Gedenkstättenleiter Jens-Christian Wagner intervenierte und hielt fest, um unschuldige Kriegsopfer müsse getrauert werden können, ohne aber an einem Ort wie Buchenwald von Genozid zu sprechen.
In der EU-Hauptstadt Brüssel wurden Ende April mehrere Stolpersteine geschändet und der Boden daneben mit dem Wort «Gaza» in grossen, weissen Lettern und einem Pfeil auf die Steine besprüht. «Das Gedenken an die Schoah muss in Würde erhalten bleiben und nicht manipuliert werden für politische Ziele», kommentierte der Europäische Jüdische Kongress in einem Post auf X. Im bereits genannten Podcast charakterisierte Judith Zilversmit, die Amsterdamer Journalistin, Gedenken als «fluide». Das ist unwiderruflich wahr. Genau deshalb steht es, 80 Jahre nach dem Holocaust, massiv unter Druck.