Der 7. Oktober 2023 hat Auswirkungen auf die Zahl der Studierenden an Judaistik-Instituten – ein Rundgang bei Universitäten in Deutschland undder Schweiz ergibt ein komplexes Bild.
Die Sicherheit jüdischer Studierender an Universitäten ist seit den Hamas-Massakern des 7. Oktober wiederholt in den Fokus geraten. Dies wirft auch die Frage auf, wie es um jene Seminare bestellt ist, die sich explizit jüdischen Themen und Inhalten widmen. Beeinflussen die Geschehnisse im Nahen Osten Institute für Judaistik oder Jewish Studies? Wie ist die Lage an den immerhin 28 Institutionen und Lehrstühlen in Deutschland, die Lehrveranstaltungen im Bereich Judaistik, Jüdische Studien, Jüdische Theologie anbieten, welche sich im Fachverband Judaistik/Jüdische Studien in Deutschland zusammengeschlossen haben?
Vermeintliche Extreme
Ein Blick auf die vermeintlichen Extreme bietet eine erste Annäherung: Die Professur für Judaistik im beschaulichen Bamberg lässt auf Anfrage ausrichten, man habe dort «Gott sei Dank gar nichts gespürt». Freilich habe man – das gilt für alle entsprechenden Seminare – nur wenig Einschreibungen, und es gebe daneben auch jüdische Studierende in anderen Fachrichtungen. Mit anderen Erwartungen wendet man sich diesbezüglich an Reimund Leicht, Professor für Judaistik an der Freien Universität Berlin, an der es seit Ende 2023 immer wieder zu propalästinensischen Protest-Aktionen und antisemitischen Vorfällen kam.
Leicht hat die Lage seit dem letzten Spätsommer miterlebt, als er nach 15 Jahren an der Hebrew University in Jerusalem in die deutsche Hauptstadt wechselte. Ob sich die Entwicklung nach dem Hamas-Angriff direkt auf Studierendenzahlen ausgewirkt habe, findet er «sehr schwierig einzuschätzen». Denn, so erklärt er gegenüber tachles: «Selbst für schwankende Zahlen gilt: Wie wollte man diesen Zusammenhang wirklich nachweisen?» Leicht betont, sowohl er persönlich als auch das Institut allgemein hätten sich im letzten Jahr stark engagiert, «um Sorgen bei Studierenden aufzufangent».
Das differenzierte Bild, das er zeichnet, schliesst auch die Leitung der Freie Universität Berlin mit ein. Diese habe sich einerseits in Äusserungen mit Israel solidarisch gezeigt und stark exponiert, teils aber auch mit entgegengesetzten Positionen durch ihr Agieren bei propalästinensischen Aktionen auf dem Campus irritiert. Dazu kam der Angriff auf den Studenten Lahav Shapira, der Anfang 2024 von einem propalästinensischen Kommilitonen zusammengeschlagen wurde. «Emotional und psychologisch hatte das sicher negativen Einfluss», so Leicht. Zugleich bemerkt er: «Die Judaistik oder jüdische Lehrveranstaltungen an sich waren nie Ziel von Angriffen auf dem Campus.»
Schmierereien
An der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität (HHU)bestätigt Leichts Kollegin Marion Aptroot, dass ein direkter Zusammenhang etwa in Form sinkender Einschreibungen nicht sichtbar ist, aber auch schwierig feststellbar wäre. Bei den grundsätzlich niedrigen Zahlen an Eingeschriebenen gebe es immer mal wieder Schwankungen, aber weder Einbrüche noch grosse Sprünge nach oben. Aptroot räumt ein, im letzten Jahr durchaus mit sinkenden Zahlen gerechnet zu haben. An der HHU herrschten zwar keine Berliner Zustände, doch tauchten an den Wänden eines Gebäudes, in dem unter anderem die philosophische Fakultät untergebracht ist, auch hier antisemitische und die Shoah verherrlichende Schmierereien auf.
Tatsächlich aber sei kein nennenswerter Unterschied zur Zeit vor dem 7. Oktober zu sehen gewesen, die Einschreibungen hätten im Rahmen des Üblichen gelegen. «Über das neue Studienjahr wissen wir noch nichts, weil wir keine Numerus-clausus-Fächer sind.» Grundsätzlich gelte auch in Düsseldorf: «Es gibt wenige Interessierte, es ist kein Modefach. Diejenigen, die Interesse daran haben, werden es behalten.» Die Zahl der eingeschriebenen Studierenden, so Aptroot, liege bei etwa 100. 50 davon seien aktiv, wobei durchaus auch Veranstaltungen von Personen aus anderen Fachrichtungen besucht würden.
Naturgemäss besonders im Blickfeld stehen zumal bei einem so kleinen Fach die bedeutenden judaistischen Standorte des Landes, etwa das Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. Als Koordinatorin des Bereichs Jüdische Studien bestätigt Marie Ch. Behrendt, dass die Zahl der Einschreibungen im Sommersemester 2024 und Wintersemester 2024/25 stabil war. Zugleich fasst sie in einem Exkurs jüngere Entwicklung des Fachs zusammen.
«In ganz Deutschland hat die Nachfrage in den letzten 20 Jahren deutlich nachgelassen. Die meisten Studierenden sind nicht jüdisch. Auf deren Interesse sind wir aber angewiesen, um auf eine bestimmte Grösse und Nachfrage zu kommen. Genau das war auch der Auftrag, als in den 1960er Jahren die ersten Lehrstühle für Judaistik entstanden, im Rahmen der ideellen Wiedergutmachung. Es ging dabei darum, Multiplikatoren in der Gesellschaft zu schaffen.» Behrendt, einst verantwortlich für ein Interview-Projekt mit dem Titel «Jüdische Studien für die Gegenwart. Zur biographischen Funktion eines Studiums der Jüdischen Studien», steckt freilich zu tief in der Materie, um diesen Rückgang allein an politischen Gründen festzumachen. Sie führt ökonomische Gründe an, ein «ständiges Krisen-Bewusstsein in der Gesellschaft», was die Studienwahl weg von geisteswissenschaftlichen Fächern mit ihrem vagen Berufsbild und in Richtung von solchen lenke, die vermeintlich bessere und konkretere Aussichten auf eine Anstellung bieten. Hinzu käme die Einführung eines sogenannten Mono-Bachelor, was die Kombinationsmöglichkeiten von Jüdischen Studien mit anderen Fächern deutlich erschwere.
Was den politischen Kontext betrifft, teilt sie eine durchaus relevante Beobachtung, die langfristiger angelegt ist als die semesterweise Immatrikulations-Statistiken: «Wir haben drei Gruppen von Studierenden: christlich-jüdisch geprägte, Linke (meist nicht jüdisch) und solche, die eher aus dem Bauch heraus liberal und weltoffen sind. Bei vielen handelt es sich um Menschen, die sich gesellschaftlich engagieren wollen. Rückt die Gesellschaft nach rechts, kann damit auch das Interesse an jüdischen Themen unter Nichtjuden sinken.» Studierende aus dem rechten populistischen Spektrum, wo derzeit häufig eine Nähe zu Israel demonstriert wird, hätte sie «noch nie» angetroffen, sagt sie entschieden.
Ein spezieller Fall ist, jedenfalls bezüglich der Einschreibungen, die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg. Rektor Andreas Brämer spricht gegenüber tachles von grundsätzlich «sehr stabilen» Studierendenzahlen und akut sogar einem «signifikanten Anstieg». Weil die Hochschule in Zusammenarbeit mit der Fachhchschule Erfurt Jüdische Soziale Arbeit als neuen Studiengang anbiete, habe sie auf einen Schlag 31 neue Einschreibungen bekommen.
Was etwaige Auswirkungen des 7. Oktober betreffe, kann der Rektor von zwei Fällen berichten, in denen jüdische Studierende ihr Studium an staatlichen Hochschulen abgebrochen und bewusst nach Heidelberg gewechselt seien, um es dort fortzusetzen. Beide Personen hätten ihm dies in persönlichen Gesprächen erzählt. «Das ist natürlich nicht zu verallgemeinern. Ob es mehrere Fälle gibt, kann ich nicht sagen.» Statt rückläufiger Zahlen durch den 7. Oktober bedeute dies für die Hochschule, die für Studierende ein «Safe space» sei, aber eher einen gegenteiligen Effekt. «Es gibt auch hier sicherlich unterschiedliche Meinungen über die Politik der israelischen Regierung, aber den sicheren Grundkonsens, dass wir froh sein können, dass es den Staat Israel gibt.»
Von rückläufigen Zahlen zu berichten kann man dagegen in Frankfurt am Main. Am Institut für Judaistik der Goethe-Universität, einem der ältesten in Deutschland, betrifft dies allerdings hauptsächlich den Bachelor-Bereich, nicht den für Master- und PhD-Studierende, berichtet die Mirjam Wenzel, die dort als Honorarprofessorin unterrichtet. «Ich denke schon, dass das mit dem 7. Oktober in Zusammenhang steht. Zugleich ist es ein wenig zu kurz gegriffen, es ausschliesslich darauf zurückzuführen.»
Konkret berichtet Wenzel, die auch Direktorin des Frankfurter Jüdischen Museums ist, dass ihre Seminare «für Jüdische-Studien-Massstäbe mit zehn bis 15 Personen gut besucht» seien. «Im aktuellen Semester sass ich aber auf einmal mit drei Leuten da.» Einer Kollegin erginge es ähnlich. Aus Gesprächen mit Studierenden wisse sie, dass diese die Situation an der Universität als «nicht leicht» empfinden. Wenzel selbst wurde Anfang 2024 bei einer Lesung im Hamburger Bahnhof in Berlin, während einer Stör-Aktion propalästinensischer Aktivisten antisemitisch beleidigt und bedroht. «Wenn ich zu Veranstaltungen eingeladen werde, erkundige ich mich jetzt immer nach dem Sicherheitskonzept.»
Zur Situation an ihrem Institut betont sie, es habe immer Wellen bei den Einschreibungen gegeben, und sie mahnt, «nicht alarmistisch» zu sein. Sie verweist aber auch darauf, dass die Immatrikulationen schon etwas länger, nämlich seit der Covid- Pandemie, abnehmen. «Das spiegelt auch die Realität einer Zeit, in der Jüdinnen und Juden eher in die Unsichtbarkeit gehen, um sich zu schützen, und der Antisemitismus zunimmt. Da muss man schon überzeugt sein, vor allem als nicht jüdischer Mensch. Und das Fach Jüdische Studien hat in Deutschland vor allem nicht jüdische Studierende.»
Vergleich zur Schweiz
Ein Blick über die Grenze in die Schweiz offenbart ein durchaus vergleichbares Bild. Auch an der Universität Basel ist der Fachbereich Jüdische Studien besonders übersichtlich, 20 bis 25 Einschreibungen gibt es, so Alfred Bodenheimer. «Was würde es bringen, wenn wir ein Riesenfach wären? Die Leute sollen ja schliesslich auch einen Job finden, Die, die jetzt studieren, finden ihn auch, sie sind insbesondere begehrte Kandidaten für fachnahe Stellen.»
Einen Einfluss der jüngsten Ereignisse im Nahen Osten auf die Zahlen sieht Bodenheimer nicht. «Wer sich dazu entscheidet, Jüdische Studien zu studieren, für den war der 7. Oktober kein Grund, das nicht zu tun. Es geht hier um Leute mit einer Faszination für dieses Fach, zuweilen auch solche, die unsere Kurse im Rahmen eines anderen Studiums besuchen und dann zu uns wechseln.» Wohl räumt er ein, die Studierenden seien durch die Ereignisse unter einen gewissen Druck geraten. «Doch bei Personen, mit denen ich Kontakt habe, hat das eher die Identifikation mit dem Fach gestärkt.»
Grundsätzlich betont Bodenheimer auch in der angespannten derzeitigen Situation einen positiven Aspekt: die Wertschätzung der Universität für seinen Fachbereich. «Die Uni ist sehr froh, dass sie die Jüdischen Studien hat. Wir können dabei helfen, die Dinge einzuordnen, und sind bemüht, nie politisch zu agieren, sondern fachlich, und uns nicht mit Ideologien gemeinzumachen. Die Uni kann sich bei so einem Fach Informationen holen. Dadurch haben die Jüdischen Studien eine sehr wichtig Rolle innerhalb und für die Uni und wirken auch in die Öffentlichkeit hinein.»