Der Gaza-Krieg hat längst auch einen Kulturkampf in der Musikszene ausgelöst, auf europäischen Musikfestivals ist der Krieg allgegenwärtig – ein Überblick.
Ein Satz erscheint auf der Bühnenwand und signalisiert, dass der Auftritt gleich beginnen wird. Acht Wörter, in riesigen weissen Blocklettern: «Israel is committing genocide against the Paelstinian people» («Israel begeht Völkermord am palästinensischen Volk»), steht da. Die Spannung im Publikum steigt hörbar an. Vereinzelt sind palästinensische Fahnen über der erwartungsvollen Menge sichtbar. Die nächste Projektion auf der Bühnenwand sagt, über 60 000 Menschen seien in den letzten anderthalb Jahren von Israel ermordet worden. Als danach die Losung «Free Palestine» sichtbar wird, beginnt die Menge zu johlen.
Trockennebel wabert auf die Bühne, eine grössere Fahne steigt hoch über die Köpfe empor, auch sie ist grün-weiss-rot-schwarz und nicht etwa grün-weiss-orange. Letzteres könnte man vermuten, wenn man die Geschichte von Kneecap kennt, dem irisch-republikanischen Rap-Trio aus Belfast, das in diesem Sommer für so viele Schlagzeilen sorgt und nun das Podium betritt. Auf dem Best-Kept-Secret-Festival tief in der niederländischen Provinz treten sie Mitte Juni, erstmals bei einer Veranstaltung auf dem europäischen Kontinent, auf der grossen Bühne auf. Es dauert etwas mehr als sechs Minuten, bis dort das erste Mal «Free Palestine» zu hören ist.
Wenig andere internationale Musiker sind so sehr mit diesem Slogan und der dazugehörigen Bewegung verbunden wie Kneecap, deren Fokus eigentlich stark auf das Leben in Belfast, Raps auf Gälisch und die Einheit der irischen Insel gerichtet ist. Als ein Film über die Gruppe im Frühjahr in die Kinos auf dem Kontinent kam, waren sie ausserhalb Irlands kaum mehr als ein Underground-Act. Kein halbes Jahr später frohlocken sie auf der Bühne des Best Kept Secret: «Dies ist unser erstes Mal auf der Hauptbühne bei einem Festival auf dem europäischen Kontinent.»
Pro-Palästina-Kundgebungen gehören zum guten Ton
Natürlich sagt dieser Satz nicht nur etwas über den rasend schnellen Aufstieg einer Band, sondern vielmehr über dessen Umstände. Pro-Palästina- und Anti-Israel-Bekenntnisse haben in der Branche derzeit nicht nur Konjunktur, sondern sind geradezu ein Hype geworden. Schon vor diesem Festivalsommer gehörte es für viele Musiker mit politischem Anspruch und Bewusstsein zum Standard, auf der Bühne ihre Solidarität mit der leidenden palästinensischen Bevölkerung auszudrücken, worauf das Publikum gewohnheitsmässig «Free free Palestine» skandiert.
All dies ist an sich nichts Ungewöhnliches, zumal bei einem Konflikt dieser medialen und gesellschaftlichen Dimension. In Zeiten des Brexit etwa sprachen sich britische Bands auf der Bühne dagegen aus. Künstler dekorieren die Kulisse ihrer Live-Auftritte seit jeher gerne mit Regenbogen-, Südstaaten-, Anarchie-, Black-Lives-Matter- oder umgedrehten Landesfahnen. Manche, wie Rage Against the Machine um die Jahrtausendwende, haben aus ihren politischen Statements und Einstellungen eine Art Corporate Identity von Band und Fans gezimmert.
In diesem Sommer allerdings hat die Welle der Palästina-Bekundungen eine neue Dynamik angenommen. Klar wurde das jenseits der Zielgruppe, die sich für Musikfestivals interessiert, freilich erst Ende Juni: Beim britischen Klassiker Glastonbury, einem der bedeutendsten Events der Saison, sorgten nicht nur Kneecap für Aufsehen, deren Rapper Mo Chara im Vereinigten Königreich vor Gericht steht, weil er bei einem Londoner Auftritt im November eine Hisbollah-Flagge schwang.
Mehr noch fiel das britische Crossover-Duo Bob Vylan auf, das auf der Bühne über das «Arbeiten für Scheiss-Zionisten» schwadronierte und das Publikum fragte: «Kennt ihr den? Tod, Tod der IDF!» Anschliessend wurde bekannt, dass der Sänger am Ende des Auftritts «jedem einzelnen IDF-Soldaten da draussen als Agent des Terrors für Israel» den Tod gewünscht habe. In manchen Kameraeinstellungen erschien das Publikum in einem Meer von palästinensischen Flaggen. Zahlreich waren sie in jedem Fall – genau wie weitere Artisten, die ihre Solidarität mit Palästina mit Statements Ausdruck brachten, ob am Mikrofon, projiziert oder mit Spruchbändern.
So wie sich der sommerliche Festival-Tross durch Europa bewegt, so folgen inzwischen auch entsprechende Auftritte einander in schnellem Tempo. Kurz nach Glastonbury ist im dänischen Roskilde ein weiterer Klassiker an der Reihe. Dort lud die irische Band Fontaines DC einige propalästinensische Aktivisten auf die Bühne, die das Publikum zum Einstimmen in selbsternannte Freiheitsslogans aufforderten: «Einige sind auf Arabisch. Wir hoffen, ihr macht mit, auch wenn ihr sie nicht versteht.»
Verschiedene Festivals, gleiches Muster
Ebenfalls Anfang Juli fand in Belgien das traditionsreiche Rock-Werchter-Festival statt. «Gaza ist Headliner», kommentierte die Tageszeitung «De Standaard». «Die Gazet van Antwerpen» taufte die Veranstaltung gar in «Gaza Rock» um. Neben Fontaines DC mit ihren Videobotschaften – «Free Palestine» oder «Israel is commiting genocide. Use your voice» – war da etwa die belgische Sängerin Sylvie Kreusch mit einem überdimensionierten Wassermelonen-Regenschirm oder die niederländische Band Goldband. «Der 637 Tage dauernde Genozid muss heute stoppen», forderten sie, ehe sie «allen Vätern in Gaza, allen Müttern in Gaza, allen Kindern in Gaza, allen Menschen, lebendig oder tot, in Gaza» ihre Liebe versicherten.
Auch Spanien ist mit zwei freilich sehr unterschiedlichen Events vertreten: Beim Primavera-Sound-Festival in Barcelona, Anfang Juni eines der Schwergewichte zu Saisonbeginn, widmeten die britischen Punks Idles ihren gesamten Auftritt Palästina. Aus dem Publikum gab es immer wieder «Viva Palästina»-Sprechchöre, während auf dem Festivalgelände in einem dunklen Tunnel Bombardierungen auf Gaza akustisch simuliert wurden – eine Installation, die den Titel «Unsilence Gaza» («Gaza hörbar machen») trug.
Einen Monat später wurde in Pamplona das ebenso legendäre wie aus tierrechtlichen Gründen umstrittene San-Fermin-Festival eröffnet. Im Publikum waren nicht nur Spruchbänder für die baskische Unabhängigkeit zu sehen und die dazugehörige Fahne der autonomen nordwestspanischen Region, sondern auch palästinensische. Die traditionelle Zeremonie auf dem Rathaus-Balkon wurde diesmal von einer Frau in Keffiah ausgeführt, die der erwartungsfrohen Menge nicht nur «Viva San Fermin» zurief, sondern auch «Viva Palestina libre».
Zweifellos wird es im weiteren Verlauf dieses Sommers zu weiteren entsprechenden Szenen kommen. Dass das Thema Gaza beziehungsweise Israel-Palästina in diesem Rahmen präsent ist, ist dabei, gemessen an den sonstigen gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Krieges und der fortwährenden medialen Konfrontation mit dem Leid der palästinensischen Bevölkerung, an sich weder verwunderlich noch verwerflich.
Mangel an Komplexität und Nuancen
Durchaus bedenklich ist dagegen, dass die Komplexität des Konflikts dabei in einem Mass reduziert wird, das nicht mehr über eine stereotype Gegenüberstellung palästinensischer Opfer und israelischer Täter hinausreicht. In diesem Narrativ erscheint die IDF als nichts anderes mehr als ein kolonialistischer Aggressor, und ihren Soldatinnen und Soldaten den Tod zu wünschen nur als folgerichtig. Die existentielle Bedrohung Israels, die Massaker von Hamas und Islamischem Jihad, die israelischen Geiseln, die Frage, inwieweit sich progressiver, von Menschenrechten geleiteter Aktivismus in die Nähe islamistischer Akteure begeben und diese als Gefährten im selben antikolonialen Kampf umdeuten kann – all das verschwindet, auf und vor der Bühne, im diskursiven Trockennebel. Wie rigide diese popkulturelle Konstellation ist, zeigt ein Beispiel aus Amsterdam. Dort sollte am letzten Wochenende das traditionelle internationale Jom-Ha-Voetbal-Turnier mit jüdischen Hobby-Teams aus verschiedenen Ländern stattfinden. Viele junge Kicker hatten sich wohl besonders auf den Auftritt des populären Sängers Douwe Bob gefreut, doch dazu kam es nicht: Da er an der Veranstaltung zionistische Aufkleber und Plakate gesehen habe, sagte Douwe Bob, schon auf der Bühne stehend, seinen Gig kurzfristig ab.
Er hinterliess enttäuschte Kinder und empörte Erwachsene. Keine Politik und keine Religion, dies sei die Abmachung gewesen, rechtfertigte sich der Künstler später. Bevor er das Mikrofon aus der Hand legte und verschwand, erklärte er noch, er liebe die jüdische Gemeinschaft, sei aber gegen den Zionismus. Die liberal-rechte Politikerin Dilan Yesilgöz warf ihm dagegen später in den sozialen Medien vor, Juden zu hassen.