Nach drei Jahren ist Mosche Kantor Präsident des EJC – die Reaktionen auf seine Wahl reichen von Glückseligkeit bis zu völligem Unverständnis.
Der European Jewish Congress (EJC) hat einen neuen, alten Präsidenten: Mosche Kantor, bereits von 2007 bis 2022 im Amt, wurde am Mittwoch von der Generalversammlung des EJC in Jerusalem für seine fünfte Amtszeit gewählt. Mit 48:31 Stimmen setzte er sich gegen seinen Vorgänger Ariel Muzicant durch. Dieser, zuvor wiederum Vizepräsident unter Kantor, hatte das Amt übernommen, als Kantor 2022 auf den Sanktionslisten des Vereinigten Königreichs wie der EU erschienen war. 2023 hatte die Vollversammlung Muzicant bestätigt.
Nachdem die EU den russischen Düngemittel-Mogul im März auf Bestreben Ungarns und der Slowakei von der Liste gestrichen hatte, wurde über eine erneute Kandidatur Kantors spekuliert und gemunkelt, offiziell äussern und wollte sich innerhalb der nationalen Organisationen jüdischer Gemeinschaften kaum jemand. Insbesondere das Brüsseler Büro des EJC verweigerte kategorisch jeden Kommentar.
Am frühen Nachmittag Jerusalemer Zeit erschien dann auf der EJC-Website ein Bericht, wonach Kantor ein weiteres Mal und «mit überwältigender Mehrheit» in seine angestammte Funktion gewählt worden sei. In der Ansprache zu seinem Wahl-Erfolg versprach Kantor, seine Anstrengungen zu intensivieren, vor allem im Angesicht der derzeitigen Herausforderungen in der Folge des 7. Oktober 2023. Seit jenem Tag wüssten alle Jüdinnen und Juden in Europa, dass «ihr Schicksal absolut mit dem des jüdischen Staats verbunden ist».
Zum Wohl der Juden
Kantor sagte weiter, derzeit gehe es nicht nur um einen Kampf um die jüdischen Gemeinschaften des Kontinents, sondern um Europa selbst, dessen Demokratien in ihren Grundfesten gefährdet und das soziale Gewebe der Gesellschaft von Hass bedroht seien. Zudem dankte er seinem Vorgänger Ariel Muzicant, mit dem er nun «zum Wohl der Gemeinschaften» zusammenarbeiten werde. Mehrfach erwähnte Kanter, die hinter ihm liegende Zeit sei «schwer» gewesen. Er lobte die «Solidarität und Einheit» und betonte, die Unterstützung von Freunden habe ihn sehr demütig gemacht. Nun gelte es «zum Wohl aller europäischer Juden» zusammenzuarbeiten.
Der politisch-gesellschaftlichen Analyse Kantors ist nur zuzustimmen, ebenso seinem Vorhaben, wie schon bei seinen früheren Präsidentschaften den Kampf gegen Antisemitismus, Stärkung des Holocaust-Gedenkens und die Sicherheit jüdischer Gemeinden voranzustellen. Fraglich ist dagegen, wie die ebenfalls angestrebte enge Zusammenarbeit mit europäischen Institutionen verlaufen wird, nachdem ihn die EU-Kommission jahrelang mit Sanktionen belegte und Grossbritannien, Polen und Estland (also zwei EU-Mitglieder) dies weiterhin tun.
Keine Erwähnung findet im Statement des EJC die Frage nach der inhaltlichen Struktur des EJC und dessen finanzieller Abhängigkeit von Kantor, dem als bekannter Philanthrop die Reputation besonderer Grosszügigkeit vorauseilt. Ariel Muzicant, der andere Kandidat, hatte im Vorfeld der Wahl in einem Gespräch mit tachles erklärt, diese Strukturen langfristig verändern zu wollen. Am Mittwochnachmittag sagte Muzicant telefonisch, seine Niederlage sei «eindeutig» und als solche zur Kenntnis zu nehmen. Aus dem EJC werde er sich nun zurückziehen.
Weiter erklärte Muzicant, er habe «alles versucht, um die jüdischen Organisationen wieder zusammenzubringen». Dies betrifft nicht zuletzt das Verhältnis zwischen Jüdischen Weltkongress (WJC), der seine Generalversammlung und Wahlen vor wenigen Tagen ebenfalls in Jerusalem abhielt. Dort wurde Ronald S. Lauder (vgl. Kasten) als Präsident betätigt. Der WJC hatte im Juni 2022 ein Statement veröffentlicht, dass «niemand, der im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine auf einer Liste sanktionierter Individuen der USA, des vereinigten Königreichs oder der Europäischen Union steht», innerhalb des Verbands eine Funktion ausfüllen oder eine Rolle spielen kann (tachles online berichtete).
Konfliktpotential
Dass das Wahlergebnis vor diesem Hintergrund Konfliktpotential hat, liegt auf der Hand. Insofern gestaltet es sich weiterhin schwierig, Beteiligte zu finden, die sich zum Thema äussern möchten. Der Zentralrat der Juden in Deutschland lehnte das in den wenigen Stunden zwischen der Bekanntgabe des Wahlergebnisses und Redaktionsschluss dieser Ausgabe ebenso ab wie die Unione delle comunità ebraiche italiane, die beide auf spätere Presse-Erklärungen verwiesen. Das Brüsseler Büro des WJC war ebenfalls kurzfristig nicht zu erreichen.
Robert Ejnes, Geschäftsführer des Conseil représentatif des institutions juives de France (CRIF), betonte in einem Telefonat mit tachles, man habe eine Wahl mit zwei Kandidaten erlebt, welche die Visionen ihrer möglichen Präsidentschaft deutlich dargelegt hätten. «Nun ist das Ergebnis bekannt, weiter gibt es nicht viel zu kommentieren.» CRIF werde mit dem neuen Präsidenten zusammenarbeiten. Kantor sei ins Amt gewählt worden, weil die Sanktionen gegen ihn weitestgehend aufgehoben wurden, nun werde man mit ihm zusammenarbeiten. Von einer Gefährdung der Einheit jüdischer Gemeinden könne keine Rede sein.
Abspaltungen
Kürzlich erst präsentierten CRIF, der deutsche Zentralrat und das britische Board of Deputies, das seit Mai 2022 kein Mitglied des EJC mehr ist, unter dem Namen JE3-Allianz in Berlin einen neuen Kooperationsverband. «Nach dem Vorbild der E3, die dieselben drei europäischen Länder zu gemeinsamen geopolitischen Themen wie den Verhandlungen mit dem Iran und Frieden und Sicherheit für Israelis und Palästinenser zusammenbringt, wird die neue Gruppierung versuchen, jüdische Positionen zu diesen und anderen Themen von gemeinsamem Interesse in die Debatte einzubringen», hiess es in einer gemeinsamen Erklärung.
Was das Verhältnis zu anderen jüdischen Repräsentationsorganen angeht, so will man «bestehende Dachverbände wie den Jüdischen Weltkongress, den Europäischen jüdischen Kongress und die J7 ergänzen, so wie die E3 die Arbeit der Vereinten Nationen, der Europäischen Union und der G7 ergänzt». Die drei beteiligten Präsidenten, Josef Schuster (Zentralrat), Phil Rosenberg (Board of Deputies) und Yonathan Arfi (CRIF) kündigten «eine starke Stimme für unsere Gemeinschaften in Fragen, die uns gemeinsam am Herzen liegen», an.
Wie sich in die Zusammenarbeit all dieser Gremien und Organisationen nun entwickeln wird, muss sich in den kommenden Monaten zeigen. Ein einfacher Start wird es kaum werden, was die meist nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochenen Bedenken jüdischer Akteure gegen einen von Kantor geleiteten EJC zumal im Westen des Kontinents betrifft. Das gilt auch bezüglich der Beziehungen zur EU. Diese strich Kantor zwar im März von ihrer Liste, doch war dies offensichtlich der Preis, den es zu zahlen galt, um Budapest und Bratislava zur Zustimmung zu den verbliebenen Sanktionierten zu bewegen.
Rückschritt zum Alten
Dass im Brüsseler EJC-Büro mehr Transparenz einzieht, steht nach diesem Ergebnis jedenfalls vorerst nicht zu erwarten. Eher deutet Kantors Wahl, wie bereits erwähnt «mit überwältigender Mehrheit», auf eine Restauration alter Machtverhältnisse und Strukturen. Dass Ariel Muzicant in der gleichen Stellungnahme zwar ausführlich gewürdigt, aber auch als «Interimspräsident» bezeichnet wird, lässt vermuten, dass er in Teilen des EJC als genau dies galt. Oder ist es nur eine Nachlässigkeit, dass sein X-Account Mosche Kantor auch schon vor der Abstimmung von Jerusalem als «President of the European Jewish Congress» ausgab?
Im Rahmen der mehrwöchigen Recherchen von tachles zu diesen Wahlen gab es wenige Personen, die sich so direkt äussern wollten wie Grigorij Mesežnikov. Der Kontakt zum Präsidenten des unabhängigen Thinktanks Institut für politische Angelegenheiten (Inštitút pre verejné otázky) in Bratislava, entstand über die Namensvettern und -Cousinen des slowakisch-jüdischen Senders Tachles Topnews. «Ich kenne Mosche Kantor nicht persönlich. Aber ich halte jeden, der mit Wladimir Putin, einem Kriegsverbrecher, verbunden ist, für disqualifiziert für jede Funktion in einer demokratischen Gesellschaft», so der Politikwissenschaftler. Kantors Wahl zum Präsidenten disqualifiziere damit auch die gesamte Organisation.
Genauso sicher, wie dieser kein Kriegsverbrecher sei, sei er Teil des wirtschaftlichen Establishments in Russland. Als solcher sei er kaum zufällig auf der europäischen Sanktions-liste gelandet, zumal die EU dabei vorsichtig und sorgfältig vorgehe. Dass man ihn wieder gestrichen habe, unter anderem durch Zutun der slowakischen Regierung, sieht Mesežnikov in Verbindung mit der Rolle des populistischen Premierministers Robert Fico, der für russischen Einfluss in Europa stehe. «Wir sind ziemlich besorgt darüber, was in unserem Land geschieht, mit so einem Premier.»
Wie Kantor die Wahl gegen Muzicant für sich entscheiden konnte, ist Mesežnikov ein Rätsel. «Da löst die gesamte EU ihre Verbindungen zu Putin, und dann wählen westeuropäische Juden Kantor! Menschen, die in einer demokratischen Gesellschaft leben! Das ist sehr traurig. Und es entspricht nicht den jüdischen Werten von Freiheit und Transparenz, die wir hochhalten sollten.»