Margot Friedländer 15. Mai 2025

Die alte Stimme für junge Menschen

Margot Friedländer (1922–2025)

Der Tod von Margot Friedländer erschütterte die Republik – und spiegelte die Anomalität im Umgang mit Überlebenden

In den Redaktionen waren die Nachrufe längst verfasst. Handelte es sich doch um eine Person des öffentlichen Lebens im Alter von über 100 Jahren (tachles online berichtete). Zu ergänzen war nur noch das Datum und der Ort des Ablebens. So durfte es nicht überraschen, dass am vergangenen Freitag die deutschen Medien mit der Aufarbeitung des Lebens der gleichentags verstorbenen Margot Friedländer überschwemmt waren. Sie, Jahrgang 1922 war die unbestrittene, über alle politischen Dissonanzen hinweg verehrte und über jeden Zweifel erhabene Doyenne der in Deutschland auftretenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Dass Margot Friedländer erst im Alter von 80 Jahren – zunächst nur besuchsweise – wieder deutschen Boden betreten hatte und wenig später, dank dort neu gewonnener, einflussreicher Freundschaften, ihren Wohnsitz von New York nach Berlin verlegte, ist auch dem Umstand geschuldet, dass sie eine Vergangenheit mitbrachte, für die sich in Brooklyn und Queens kaum jemand interessierte, umso mehr jedoch in Berlin, wo ihre Rückkehr in die Heimatstadt als symbolträchtiger Akt einer späten Versöhnung gesehen werden wollte.

Erinnerungsarbeit statt Versöhnung

Doch Friedländers Mission war nicht Versöhnung, sondern Erinnerungsarbeit, die darin bestand, vor allem jungen Menschen von ihrem Leben als verfolgte und entrechtete Jüdin in Deutschland zu berichten. Sie trat als Mahnerin auf und schärfte mit ihren unermüdlich vor allem in Schulen geführten Gesprächen und Lesungen bei ihrem Publikum ein Bewusstsein, dass man sich gegen Rassenhass und Diskriminierung zur Wehr setzen soll. Mit diesem Engagement unterschied sie sich nicht von der Mission Hunderter von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die mit ebensolchem Engagement, oft unter Aufbietung aller Kräfte, landauf, landab ihr Zeugnis ablegten. Dass Margot Friedländer zu einer Ikone des in Deutschland praktizierten Erinnerungsnarrativs emporstieg, dessen Wucht sie sich letztlich nicht entziehen konnte, ist in der nie erfüllten Sehnsucht nach Vergebung der deutschen Schuld an den millionenfachen Verbrechen zu suchen. Ein Urwunsch, der sich auch schon vor Margot Friedländers Rückkehr in das «Land der Täter» artikulierte. Der Publizist Max Czollek zitiert dazu in seinem Essay «Versöhnungstheater». Anmerkungen zur deutschen Erinnerungskultur die Ansprachen zweier Bundespräsidenten. Richard von Weizsäcker in seiner Rede vom 8. Mai 1985: «Das Geheimnis der Erlösung heisst Erinnerung» und Frank-Walter Steinmeier anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz: «Ich bin erfüllt von Dankbarkeit für die ausgestreckte Hand der Überlebenden […]. Ich bin beseelt vom Geist der Versöhnung.» Daraus schliesst Czollek: «Es entsteht der Eindruck, die deutsche Seite habe sich vor allem darum auf die Erinnerungsarbeit eingelassen, weil sie sich davon etwas versprochen habe. Als sei die lang überfällige Beschäftigung mit den diversen deutschen Gewaltgeschichten unmittelbar an Versöhnung gekoppelt, die Aufarbeitung an die Bewältigung, das Eingeständnis von Schuld an die Begnadigung durch die Überlebenden.»

Schicksalsweg

Margot Friedländer entsprach dem Wunschbild der «Begnadigung» in hohem Masse, obwohl ihr dieser Akt, trotz der Hingabe, die Erinnerung wach zu halten, fern lag. Die Ermordung ihres Bruders, der Mutter und der Millionen Menschen waren nicht zu verzeihen. Dass sie dennoch als die Verkörperung einer ersehnten Absolution verehrt, gefeiert und hoch geehrt wurde, lag an ihrem Schicksalsweg, der die gesamte Fallhöhe einer zutiefst berührenden Zeitzeugenschaft erfahrbar machen konnte. Dies, gepaart mit ihrem stets am Menschen interessierten Wesen, erfüllte alle Charakteristika einer medial und gesellschaftlich wirkungsvollen Zeitzeugin, mit der sich Staat machen liess. Was ihr an Aufmerksamkeit zuteil wurde, mag sie mit Genugtuung erfüllt haben. Einen Anspruch darauf hat sie nie gestellt. Unvergessen bleibt ihre Replik anlässlich der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft. Vor versammelter Prominenz im Berliner Rathaus stellte Friedländer klar, dass sie hierfür – entgegen vielen Erwartungen – nicht zu danken habe. Man gebe ihr nur zurück, was man ihr zu Unrecht genommen habe. Auch wenn Margot Friedländer sich der Macht ihrer Vereinnahmung als Ikone einer Erinnerungskultur Deutscher Prägung nicht entziehen konnte, so blieb sie sich doch bis zum Ende treu.

Gabriel Heim