Der Europäische jüdische Kongress wählt nächste Woche einen neuen Präsidenten und einen Vorstand – und hüllt sich in Schweigen.
«Uniting European Jewish Communities» – dieses Motto erscheint, wenn man die Website des Europäischen jüdischen Kongresses (EJC) aufsucht. Sie bietet einen umfangreichen Überblick über Aktualitäten, den Einsatz für jüdisches Leben und jüdische Kultur in Europa, die Erinnerung an die Schoah und den Einsatz gegen Antisemitismus, unter anderem durch die EU-finanzierte Zeichentrick-Video-Serie «Glad you asked» («Wie gut, dass Du fragst») über jüdische Identität und Geschichte. Es ist keine Übertreibung, den Internetauftritt als Fundgrube zu bezeichnen.
Existentielle Fragen
Worüber man allerdings nichts findet, sind die am 21. Mai anstehenden Wahlen des EJC, der 42 nationale Dachverbände repräsentiert. Dabei geht es um grosse Fragen. Extern um die zunehmend prekäre Situation der jüdischen Bevölkerung des Kontinents und ihre Beziehungen zu europäischen Institutionen, und intern um die Zukunft jüdischer Repräsentation und ihrer Strukturen. Ort der Wahlen ist Jerusalem, wo zwei Tage zuvor auch jene des Jüdischen Weltkongresses stattfinden. Als Präsidentschaftskandidaten stehen sich Amtsinhaber Ariel Muzicant und sein Vorgänger Moshe Kantor gegenüber.
Der Wiener Muzicant, langjähriger Präsident der dortigen Israelischen Kultusgemeinde, löste 2022 den aus Moskau stammenden Moshe Kantor ab, der einst an der Spitze des Russisch-Jüdischen Kongresses stand. Damals erschien der Name des Düngemittel-Oligarchen auf den Sanktionslisten des Vereinigten Königreichs sowie der EU, die ihn beide kriegsrelevanter finanzieller und wirtschaftlicher Verbindungen zum Kreml beschuldigten. Kantor stritt dies immer ab und wurde im März auf Drängen Ungarns und der Slowakei von der EU-Liste gestrichen. Seit 2022 berichtete tachles mehrfach über das Thema.
Das Politikum Kantor
Bezüglich der Wahlen, deren Ergebnis unmittelbar nach der Abstimmung am kommenden Mittwoch bekannt werden wird, stellt sich zum einen die Frage, wie eine mögliche erneute Präsidentschaft Kantors sich auf die Beziehungen des EJC zur Europäischen Union auswirken könnte. Zumindest ist davon auszugehen, dass es dazu in den Mitgliedsstaaten geteilte Meinungen gibt – so wie schon zur Streichung Kantors von der Sanktionsliste, die Ungarn und die Slowakei den anderen Mitgliedsländern als Gegenleistung für ihre weitere Zustimmung zur verbleibenden Liste abringen konnten.
Der EJC könnte damit inmitten der komplexen Dynamik der europäischen Einheit in der Ukraine-Frage landen, deren Fragilität mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien womöglich noch zunehmen wird. Da Kantor weiterhin auf den Sanktionslisten Grossbritanniens, Polens und Estlands steht, könnte der Kongress innerhalb dieser Konstellation auch selbst zu einem Politikum werden – alles andere als eine komfortable Ausgangsposition, um, wie es im offiziellen Statement heisst, die Einheit des europäischen Judentums und jüdisches Leben in Europa zu fördern.
Gerade diese Einheit ist auch intern fraglich: Wie tachles erfuhr, soll es seitens westeuropäischer Verbände Versuche geben, Kantor davon zu überzeugen, seine Kandidatur aufzugeben, nicht zuletzt, weil man einen Oligarchen mit durch die Sanktionsliste befleckter Reputation nicht als geeigneten Vertreter sieht. Zugleich ist Kantor, der unbestritten beträchtliche Teile seines Vermögens philanthropischen Zwecken und der Bekämpfung von Antisemitismus gespendet hat, als Wohltäter überaus geschätzt, und seine jahrelangen Zuwendungen haben zweifellos Seilschaften geschaffen, die auch in der jetzigen Situation greifen und funktionieren.
In Schweigen gehüllt
Wenn Kantor und Muzicant am Tag vor der Wahl an der Generalversammlung ihr Wahlprogramm präsentieren, wird der Amtsinhaber – neben der engen Kooperation jüdischer Organisationen und der Situation prekärer kleiner Gemeinschaften – nicht zuletzt auf die Selbstständigkeit und finanzielle Unabhängigkeit des EJC setzen, auch und gerade von omnipotenten Mäzenen und den damit verbundenen Abhängigkeiten. Sein Herausforderer war für tachles vor den Wahlen wie auch allgemein in den letzten Jahren weder für ein Gespräch noch für Stellungnahmen zu erreichen. Auf seinem X-Profil nennt Kantor sich freilich, neben «internationaler öffentlicher Figur und Philanthrop» immer noch «Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses». Über sein Wahlprogramm ist nichts in Erfahrung zu bringen.
Allgemein gilt, dass die Informationslage im Vorfeld der Abstimmung reichlich dünn ist. Auch in den sozialen Medien des EJC sucht man danach vergeblich. Zahlreiche nationale Verbände jüdischer Gemeinden wollen sich gegenüber Journalisten nicht äussern. Immer wieder ist die Antwort ein entschuldigendes und etwas betretenes Drucksen, referierend auf die Tatsache, dass es nun mal, wie man inzwischen längst weiss, um ein sensibles Thema geht. Nicht einmal auf die Frage, welcher Verband Kantor eigentlich nominiert hat, lässt sich eine Antwort bekommen. Aus dem Brüsseler EJC-Büro tönt es gar, alle dort «hätten kein Recht, während der Wahlkampagne einen Kommentar abzugeben».
Vergleicht man dieses Bild mit den zahlreichen Bekenntnissen des Kongresses zu demokratischen Werten und Standards, gemahnt das fast schon an Omertà. Ein Versuch, dennoch über die Wahlen zu berichten, ist ein absurdes Ansinnen, mit dessen Vergeblichkeit man schon im Vorfeld rechnet. Damit fällt der EJC zum einen eklatant hinter die eigenen Ansprüche zurück, die er vollkommen zu recht offensiv formuliert und zugleich nach aussen hin fordert. Zum anderen scheint er sich einzureihen in eine allgemeine Tendenz zur Autokratisierung, die in der gesamten Gesellschaft – auch in Westeuropa – festzustellen ist. Man kann, man sollte dies kritisieren, und doch ist die Frage berechtigt, warum diese Entwicklung vor jüdischen Organisationen haltmachen sollte.
Die schwindende Pressefreiheit
Informations- und Pressefreiheit mutiert in diesem Kontext langsam und scheibchenweise von einem selbstverständlichen Grundrecht zu etwas, das der Öffentlichkeit von mächtigen Akteuren gewährt wird – wenn diese es für richtig, vertretbar oder dienlich halten. Man sieht dieses Verhalten etwa bei international relevanten Fussballclubs, die sich vielfach ihre eigenen, internen Medien halten, bei Königshäusern, teils auch in der Politik.
Man sah es auch vor gut zehn Jahren, als zwei ukrainische Oligarchen die Europäische jüdische Union aus dem Boden stampften, vermeintlich als Gegenmodell zu den konventionellen Körperschaften jüdischer Repräsentation, und unter zweifelhaften Umständen ein «Europäisch-Jüdisches Parlament» wählen liessen. Medien- und Akkreditierungsanfragen prallten an den Organisatoren aus Prinzip ab, bei einer Veranstaltung in Brüssel wurde tachles gar von der Polizei aus dem Foyer eines Luxushotels geworfen, während eine der Persönlichkeiten ganz selbstverständlich von einem eigens eingeflogenen ukrainischen Sender interviewt wurde.
Zu sagen, dass der EJC auf diesem Niveau agiert, wäre übertrieben. Dass er sich in Teilen in diese Richtung bewegt, ist dagegen nicht von der Hand zu weisen. Dabei ist die heutige Situation nur eine Fortsetzung derjenigen von 2022, als Moshe Kantor, damals seit anderthalb Jahrzehnten im Amt, auf den Sanktionslisten erschien. Das Bild, das sich damals bot, war das einer Organisation, die unwillig, gar unfähig war, die Rolle ihres Präsidenten möglichst objektiv, jedenfalls aber nuanciert und mit dem nötigen Raum für Ambivalenz zu diskutieren. Das hätte nicht zwangsläufig bedeutet, ihn, wie es «Haaretz» tat, schlicht als «Putins Mann» zu bezeichnen.
Stattdessen aber blieben die Fragen, die bei seinem nicht ganz freiwilligen Abschied nicht gestellt wurden, offenbar drei Jahre lang im Schrank. Zu erwarten, dass sie anlässlich seiner möglichen Rückkehr hervorgeholt und gar beantwortet werden, ist wohl realitätsfern. Was diese Realität bedeutet, ist im Vorfeld der anstehenden Wahl jedoch den einen oder anderen Gedanken wert.