ROSCH HASCHANA 5786 12. Sep 2025

Zwischen Gericht und Erneuerung

Das jüdische Neujahr mit Schofar und Machsor als Reflektionsraum.

Rosch Haschana bietet der jüdischen Gemeinschaft einen Moment kollektiver Selbstvergewisserung – Überlegungen von Gershom Scholem, Joshua Heschel und Nechama Leibowitz verdeutlichen dessen Bedeutung in Europa.

Wenn im Herbst die Luft in den Strassen von Zürich, Basel oder Genf kühler wird und die ersten Blätter fallen, beginnt für die jüdischen Gemeinden eine Zeit der besonderen Verdichtung: die hohen Feiertage, die Tage der Ehrfurcht («jamim noraim»). Rosch Haschana, das jüdische Neujahrsfest, eröffnet diese Phase nicht mit Feuerwerk oder ausgelassener Feier, sondern mit einem Klang – dem Ton des Schofars, des Widderhorns. Er ist kein musikalischer Wohlklang, sondern ein archaischer, rauer Ton, der aufrütteln will. Abraham Joshua Heschel, der grosse jüdische Theologe des 20. Jahrhunderts, beschreibt diesen Moment nicht als nostalgisches Ritual, sondern als «Weckruf der Seele». Für Heschel ist der Schofar das Instrument, das uns aus der Betäubung der Gewohnheit herausreisst: Er ruft uns auf, die Wirklichkeit nicht als selbstverständlich hinzunehmen, sondern als offenen Auftrag zu begreifen.

Traditionell gilt Rosch Haschana als «jom hadin», der Tag des Gerichts. An diesem Tag, so erzählt es die liturgische Poesie, werden alle Geschöpfe «vor Gott vorbeiziehen wie Schafe vor dem Hirten». Dieses Bild, das aus der Mischna stammt, ist weit mehr als ein archaisches Gleichnis. Es erinnert an die fragile Stellung des Menschen in der Welt. Doch im Unterschied zu einem rein furchterregenden Gericht steht nicht Angst im Zentrum, sondern Verantwortung. Heschel betont, dass der Sinn des Gerichts nicht in der Drohung liegt, sondern in der Möglichkeit der Erneuerung: «Wir beten nicht, um Gott zu bewegen, sondern um uns selbst zu bewegen.»

Damit verschiebt sich die Perspektive. Rosch Haschana ist nicht der Abschluss eines göttlichen Buchhaltungssystems, sondern ein Moment, in dem Menschen ihre Beziehungen zueinander und zur Welt überprüfen. Das Urteil ist keine göttliche Willkür, sondern ein Spiegel: Wie haben wir gehandelt, wo haben wir versagt und wo können wir uns verändern?

Erinnerung als schöpferische Kraft
Eine der zentralen Gebetsgruppen an Rosch Haschana heisst «sichronot», die «Erinnerungen». Gershom Scholem hat darauf hingewiesen, dass das jüdische Konzept der Erinnerung kein passives Zurückschauen meint. Erinnern ist hier eine schöpferische Kraft, die Vergangenheit und Gegenwart verwebt. Im Gottesdienst wird nicht nur an die Taten der Vorfahren erinnert, sondern die Gemeinde verpflichtet sich, diese Geschichten weiterzutragen und neu zu deuten.

Nechama Leibowitz, die grosse Bibelauslegerin des 20. Jahrhunderts, knüpft genau daran an. Sie verweist auf die Thoralesungen von Rosch Haschana: Genesis 21 und 22. In der ersten Erzählung wird Isaak geboren, während Hagar und Ismael vertrieben werden. In der zweiten, der berühmten Akeda, bindet Abraham seinen Sohn Isaak auf den Altar, bis Gott im letzten Moment eingreift. Für Leibowitz sind diese Texte keine heroischen Erzählungen über Glaubensgehorsam, sondern Spiegelungen existenzieller Ambivalenz.

In Genesis 21 zeigt sich Gottes universaler Anspruch: Obwohl Ismael nicht der Träger der Bundesverheissung ist, wird er in der Wüste gerettet. Gott hört «die Stimme des Knaben». Leibowitz interpretiert dies als Hinweis darauf, dass der göttliche Blick nicht exklusiv ist. An Rosch Haschana wird nicht nur an das Schicksal des jüdischen Volkes erinnert, sondern auch an das Schicksal aller Menschen. Der Feiertag stellt die Frage: Wie gehen wir mit den Schwachen, den Ausgeschlossenen, den Fremden um?

Die Akeda, die Bindung Isaaks, thematisiert eine andere Dimension: den gefährlichen Eifer religiöser Hingabe. Abraham ist bereit, alles zu opfern – selbst seinen Sohn. Doch die eigentliche Pointe liegt im Abbruch der Gewalt: Ein Widder tritt an die Stelle des Kindes. Für Leibowitz ist dies die bleibende Botschaft: Wahre Gottesverehrung kennt Grenzen. Rosch Haschana erinnert daran, dass religiöser Eifer niemals über ethische Verantwortung triumphieren darf. Leibowitz sagt: «das grösste Opfer ist nicht das vollzogene, sondern das verhinderte. Der Widder steht für eine Ethik, die Leben schützt.»

Das Blasen des Schofars ist das sinnlichste und symbolträchtigste Element von Rosch Haschana. Heschel versteht diesen Ton nicht nur als Ritual, sondern als eine Art kosmischen Schrei. In einer Welt, die von Geräuschen überflutet ist, bricht der einfache, rohe Ton des Widderhorns durch alle Ablenkungen. Er ist eine Unterbrechung – ähnlich wie der Engel, der Abraham am Altar aufhält. Der Schofar ruft den Menschen in die Verantwortung: «Wach auf, du Schläfer! Prüfe dein Leben!»

In den Schweizer Gemeinden – sei es in der altehrwürdigen Synagoge an der Löwenstrasse in Zürich oder in der Basler Synagoge an der Leimenstrasse – hallt dieser Ton nicht nur als religiöses Signal, sondern auch als kulturelles Echo. In einem Land, das selbst von Mehrsprachigkeit und Vielfalt geprägt ist, verbindet der Schofar Generationen und Herkünfte. Er schafft einen Resonanzraum, in dem Erinnerung, Selbstprüfung und Gemeinschaft zusammenfinden.

Europäische Perspektiven
Rosch Haschana hat in Europa eine besondere Geschichte. In den Schtetl Osteuropas, in den Synagogen Berlins oder Basels war das Neujahrsfest immer auch ein Moment kollektiver Selbstvergewisserung. Historische Postkarten aus dem 19. Jahrhundert zeigen festlich gekleidete Familien, Rabbiner mit Schofar, Kinder mit Honigkuchen – Symbole einer Welt, die durch die Schoah zerstört wurde, aber in Ritualen weiterlebt.

Heute steht Rosch Haschana in Europa nicht nur für religiöse Tradition, sondern auch für das Überleben und die Erneuerung jüdischer Kultur. In der Schweiz wird diese Dimension sichtbar, wenn jüdische Gemeinden öffentlich auftreten – etwa im Rahmen des Europäischen Tags der jüdischen Kultur. Das Thema «People of the Book», das 2025 gewählt wurde, spiegelt die Verbindung von Schrift, Erinnerung und Zukunft. Rosch Haschana ist Teil dieses kulturellen Gedächtnisses: ein Fest, das zugleich nach innen und aussen wirkt.

Das Paradox des Neujahrs
Das zentrale Thema der hohen Feiertage ist «teschuwa», die «Umkehr». Heschel beschreibt sie nicht als rein psychologischen Prozess, sondern als Antwort auf Gottes Ruf. Nicht der Mensch sucht Gott, sondern Gott sucht den Menschen – und Rosch Haschana ist der Moment, in dem diese Begegnung möglich wird. Umkehr bedeutet, sich von der eigenen Selbstbezogenheit zu lösen und die Welt neu zu sehen. Heschel warnt vor einer rein individuellen Spiritualität: «Umkehr ohne Verantwortung für die Welt ist keine Umkehr.» In diesem Sinn ist Rosch Haschana auch ein politisches und ethisches Fest. Es fragt nicht nur nach dem persönlichen Leben, sondern auch nach den Strukturen, in denen wir handeln. In Zeiten von Krieg, Flucht und sozialer Spaltung wird der Schofar so zu einem Ruf nach Gerechtigkeit.

Traditionell werden an Rosch Haschana Äpfel in Honig getaucht – ein Symbol für die Hoffnung auf ein «süsses neues Jahr». Diese Süsse steht nicht im Widerspruch zum Ernst des Gerichts, sondern ergänzt ihn. Heschel beschreibt dies als «kosmische Dialektik»: Der Mensch steht zwischen Furcht und Freude, Schuld und Hoffnung. Gerade diese Spannung macht die Feiertage so bedeutsam.

In der Schweiz, wo verschiedene Kulturen und Religionen eng nebeneinander leben, kann dieses Paradox eine Brücke schlagen. Rosch Haschana lädt dazu ein, über die eigenen Grenzen hinauszublicken und gemeinsame Werte zu entdecken: Verantwortung, Mitgefühl, Erneuerung.

Ein Fest der Zukunft
Rosch Haschana ist ein Fest, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Es erinnert an die Geschichten unserer Vorfahren, prüft unser heutiges Handeln und eröffnet die Möglichkeit einer anderen Zukunft. Für Nechama Leibowitz liegt die eigentliche Botschaft in der doppelten Bewegung: Erinnern und Verändern. Für Heschel ist es der Moment, in dem der Mensch erfährt, dass er nicht allein sucht – sondern gesucht wird.

Wenn das Schofar in einer Schweizer Synagoge ertönt, klingt er weit über die Mauern hinaus. Er ruft nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern auch die Gesellschaft insgesamt auf, sich selbst zu prüfen. Rosch Haschana ist damit mehr als ein jüdisches Neujahr: Es ist ein universaler Appell, das Leben neu zu denken – süss, ernst und voller Verantwortung.

Nathan Birnbaum