Wo hört die Operation im Gazastreifen auf? Zwar hat die Invasion begonnen, doch geht aus den Generalstabskarten der israelischen Armee nicht ganz deutlich hervor, wohin sie führen soll. Auf den Karten weisen die Pfeile tief nach Gaza, doch ohne vorgezeichnete Ziellinien. Wo wird gestoppt? Haben die Soldaten für die Millionenstadt eine Militärverwaltung im Kampfgepäck? Werden israelische Siedler nachrücken? Finanzminister Bezalel Smotrich sah Gaza am Mittwoch bereits als «Immobilien-Bonanza». Mit genauen Plänen. «Für den Krieg haben wir einiges zahlen müssen, das ist in Prozenten auf den Boden umzurechnen. Die Zerstörungsphase haben wir bereits hinter uns.»
Obwohl die Regierung es eilig hat, lässt sich die Armee Zeit. Der Vormarsch erfolgt deutlich langsamer als bei der ersten Eroberung Ende 2023. Obwohl da der Widerstand der Hamas noch organisierter und schlagkräftiger war. Die Armee gibt dadurch den in Gaza verbliebenen Einwohnern eine weitere Chance, sich vor den zu erwartenden Strassenkämpfen nach Süden abzusetzen. Darum wurde auch eine weitere Fluchtroute südwärts eingerichtet. Tatsächlich stieg in den letzten Tagen die Zahl der Flüchtenden auf 400 000 spürbar an. Die zentrale Nord-Süd-Achse Salach-a-Din ist verstopft. Der Verkehr kommt nur langsam vorwärts. Anders als 2023 nehmen die meisten Abziehenden mehr als Handgepäck mit. Hausrat stapelt sich auf Eselskarren und Bollerwagen. Das langsame Vordringen zeigt aber auch die Hoffnung der Armeeführung, dass doch noch ein Machtwort aus Washington die ungewollte Offensive stoppt. Bislang vergeblich.
Über 400 000 sind demnach auf ihrem Weg nach Süden, es bleiben immer noch 600 000 Menschen in der Stadt, von denen der weitaus grösste Teil nicht zu den Kämpfern der Hamas oder ihren fanatischen Anhängern gehört. Es sind Alte, Kranke und seelisch Erschöpfte, die im Gedränge nach Süden nicht mehr ihren Platz finden können. Ganz zu schweigen von den Wohnvierteln, die von Hamas-Terroristen abgeriegelt werden, um jede Flucht zu verhindern. In Gaza schützt die Bevölkerung die Bewaffneten. Nicht umgekehrt.
Hunderttausende Zivilisten, 46 Geiseln, drei Divisionen Soldaten – und doch ein Ein-Mann-Krieg. Ein Mann, Netanyahu, resistent gegen Experten-Rat, öffentliche Meinung und Kritik aus aller Welt. In seiner Regierung ist der Premier schon lange der Alleinherrscher. In der Clique, die aus Angeklagten, Verdächtigen, Vorbestraften und Schleimern besteht, finden sich nur Ja-Sager. Was mit Dom Pérignon Rosé und Habanos im Hause Netanyahu begann, fand letzte Woche einen neuen Höhepunkt bei einer polizeilichen Hausdurchsuchung im Ministerium für Soziale Gleichstellung. Mit dem Fund einer Cannabis-Plantage im Keller der engsten Beraterin von Ministerin Mai Golan. Hinzu kommt der Verdacht auf Betrug, Bestechung und Veruntreuung. Ganz wie der Chef. Frau Ministerin ignorierte letzte Woche einfach die Vorladung der Polizei.
Ein korrupter Klüngel, der auch mit Dienstwagen keine Hoffnungen wecken kann. Der trotz des Krieges mit der Hamas auch noch der Gewaltenteilung des Staates den Kampf angesagt hat. Wie lässig der Premier doch die Kritik seiner Experten abwinkte: «Da ist immer jemand im Raum anderer Meinung. Doch am Ende entscheide ich.» Stimmt. Warum aber übernimmt er am Ende dann nicht auch die Verantwortung für seine Entscheidungen?
An der immer deutlicher ansteigenden Terrorwelle im Westjordanland sind das Oberste Gericht und die Generalstaatsanwältin schuld. Sie lassen der Regierung keine freie Hand. «Wir haben keine Zeit für sowas», sagte er und meinte gesetzliche Vorgaben für die Politik. Hat die Regierung daher auch keine freie Hand, wirksam gegen die seit Langem immer wieder in palästinensischen Dörfern randalierenden Schlägertrupps der Siedler vorzugehen? Bestimmen am Ende nicht eigentlich Entscheidungen, die Netanyahu ohne Entschluss endlos vor sich her wälzt, Israels Politik?
Ein Mann. Den Krieg gegen den Iran hat Netanyahu gewonnen. Mit seiner alleinigen Entscheidung. Israels wachsende Isolation weltweit ist jedoch die Folge des Gaza-Krieges, für den Netanyahu – so Netanyahu – keine Verantwortung trägt. Um den Antisemitismus nicht zu vergessen, auch der fällt unter seine Verantwortungslosigkeit. Hätte die Bombardierung der Hamas-Führung in Doha alle Anwesenden getötet, wäre es sein Erfolg gewesen. Entschieden allein von ihm. Jetzt hält er sich mit Selbstlob vorsichtig zurück.
Dabei ist genau genommen immer noch nicht klar, ob nicht doch einige Hamas-Köpfe verletzt wurden. Sie zeigen sich bislang weder in Bild noch in Ton. Doch zeigt sich Netanyahu und seine Ministergang unfähig, auch einen möglichen Teilerfolg politisch auszuwerten. Katar etwa als weltweiten Terrorfinanzierer blosszustellen. Denn die politische Handlungsfähigkeit dieser Regierung ist gewollt. Sie dient dem Erhalt seiner Koalition. Weshalb sonst ignorierte Netanyahu im letzten Jahr einfach brauchbare Kompromissvorschläge in den Geiselverhandlungen aus Kairo und Riad?
Sogar Donald Trump ist «nicht begeistert» vom Einschlag der Rakete in Doha. Der dem Angriff folgende arabisch-islamische Gipfel machte dann alte Feinde erneut zu widerwilligen Bettgenossen. Für einige Minuten waren die Abraham-Abkommen vergessen. Auf der flaggenbunten Show-Bühne in Doha flanierte wieder der fast schon vergessene Bund aus Israel-Hassern. Arabisch und islamisch. Nur ihre internen Konflikte hielten die Beteiligten davon ab, ihrer Abscheu vor Israel ausser leeren Worten konkrete Taten folgen zu lassen. Bis auf zwei: Bahrain entsendet vorläufig keinen Botschafter nach Israel. Der alte Chefdiplomat verliess Tel Aviv bereits im April, um einen höheren Posten in Manama zu übernehmen. Die Botschaft bleibt geöffnet. Und nach einem diskreten Gespräch mit dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman kam es in Dohas Al-Jazeera-Sender zu Umstrukturierungen. Wie es aussieht, dürfte der Sender dadurch in Zukunft weniger Islam und mehr Katar in die Welt ausstrahlen.
Ganz so schlecht ist Israels Lage demnach doch nicht. Was Netanyahu genügend Grund gibt, sie schlechter zu gestalten. Sein angekündigtes «Super-Sparta Israel» wäre so ein richtiger Schritt in die falsche Richtung. «Autarke Merkmale» soll sein Sparta-Israel haben. Allein gegen den Rest der Welt. In einem Krieg, dessen Sinn sogar der eigene Armeechef nicht verstehen kann, dient dieser Krieg doch nur einem Sinn: der ganz persönlichen Selbsterhaltung Netanyahus und seines politischen Klüngels. Finanziert mit israelischen Steuergeldern allein, auch wenn die dank der aufblühenden Autarkie stark abnehmen dürften, wenn ein Drittel der Wirtschaft Israels nicht mehr für den Export produzieren kann.
Selbst die Gelder, mit denen Katar sich PR-Experten unter Netanyahus Beratern kaufte, fliessen dann nicht mehr. Und die US-Finanzhilfe? Unter Demokraten wird Israel schon jetzt immer stärker unter den unberührbaren Lepra-Staaten eingeordnet. Schlimmer noch: Auch unter jungen Republikanern gilt Israel mehr und mehr als obsolet.
Wo bleibt da Israels letzter Hoffnungsträger? Donald Trump gilt selbst unter den Geiselangehörigen nicht mehr als Retter aus der Not. Seinen grossen Worten folgten keine Taten. «Bis Monatsende sollte der Krieg beendet sein», tönte er. Im September. Jetzt klingt es wieder mehr nach «Öffnung der Höllenpforten für Gaza». Die wurden schon im Februar angekündigt. Gaza ortet Trump irgendwo zwischen Riviera und Müllhalde. Fazit: Der US-Präsident hält bislang Netanyahu den Rücken frei. Jehuda, der Vater der Geisel Nimrod Cohen, vertraut keinem der beiden mehr. Als die gepanzerten Zahal-Fahrzeuge ihren Vorstoss begannen, setzte er einen Schlussstrich unter seine eigene Rechnung: «Ein Kriegsverbrechen – gegen Zivilisten wie gegen die Soldaten. Vor allem aber gegen die Geiseln.»
Norbert Jessen ist Journalist und lebt im Süden Israels.
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19. Sep 2025
Wohin geht Israel?
Norbert Jessen