Sidra Wajechi 10. Jan 2025

Wie Efrajim und Menasche

Es ist nicht immer einfach, in der Parascha eine für uns heute relevante Aussage zu finden. Doch diese Woche ist es erstaunlich leicht. Wir finden da in unserer Parascha den Grund für einen sehr verbreiteten jüdischen Brauch, der gerade jetzt, in unserer heutigen Situation, von aktuellster Bedeutung ist und uns etwas Grundlegendes beibringt oder wieder in Erinnerung ruft.

Unsere Parascha, die letzte von Sefer Bereschit, dem ersten Buch Mose, beschreibt den letzten Teil des Lebens von Ja’akow. Er wird gegen Ende der Parascha sterben (1. B. M. 50, 1). Doch vor seinem Tod segnet er seine Nachkommen; zuerst die Enkel und danach all seine Söhne.

Bei der Bracha, dem Segen, den er Efrajim und Menasche, den beiden Söhnen von Josef, erteilt, findet sich eine Aussage, die zu beachten ist. Der Grossvater segnet seine beiden Enkel so: «Durch dich wird Jisrael mit folgenden Worten segnen: ‹Gott möge dich wie Efrajim und Menasche sein lassen›» (ibid. 48, 20). Die Formulierung dieser Bracha ist seltsam und schwierig zu verstehen. Deshalb erklärt Raschi, was damit gemeint ist: Wenn jemand seinen Söhnen eine Bracha geben will, so wird er sie mit diesen Worten segnen. Er sage zu seinem Sohn: «Jesimcha E-lohim k-Efrajim w’chi-Menasche», also genau dieselben Worte.

Und wirklich. Mit genau diesen Worten beginnen heute die jüdischen Väter – und einige Mütter – am Freitagabend ihre Söhne zu segnen. Doch es drängt sich da sofort eine offensichtliche Frage auf. Warum legt denn Ja’akow seinen Nachkommen nahe, ihre Söhne mit diesen Worten zu segnen? Warum «wie Efrajim und Menasche»? Warum nicht «wie Awraham, Jizchak und Ja’akow»?

Die Frage drängt sich umso mehr auf, als die Töchter gesegnet werden mit den Worten: «Gott möge dich sein lassen wie Sara, Riwka, Rachel und Lea.»

Die Antwort auf die Frage liegt im Hinweis da-rauf, dass sich Efrajim und Menasche durch eine Eigenschaft auszeichnen, die im ganzen Sefer Bereschit selten anzutreffen ist. Viele der Brüder in diesem Buch sind nicht miteinander ausgekommen, waren schrecklich miteinander verstritten. Kajin hat Hewel umgebracht. Esaw hat Ja’akow gehasst und wollte ihn umbringen, ebenso wie die Brüder von Josef ihn hassten und umbringen wollten. Bei Efrajim und Menasche hingegen hören wir nichts von Neid, Hass oder Streit. Und dies, obwohl auch bei ihnen Grund dazu da war. Denn auch hier wird wie bei Ja’akow vorausgesagt: «der jüngere Bruder wird grösser sein als er» (ibid. Vers 19), als der Ältere. Doch dies hat bei Efrajim und Menasche weder zu Stolz beim Älteren noch zu Neid beim Jüngeren geführt.

Efrajim und Menasche haben anscheinend einerseits verstanden, dass sie Brüder sind und für immer bleiben werden. Das bedeutet, dass sie derselben Familie angehören, miteinander zusammenleben und eine gemeinsame Zukunft haben werden. Doch andererseits haben sie anscheinend auch realisiert, dass sie voneinander verschieden sind, jeder seine eigene Persönlichkeit hat und seinen eigenen Lebensweg gehen wird. Sie haben sich trotz der grossen Unterschiede gegenseitig voll akzeptiert und respektiert. Auf diese Art muss es ihnen gelungen sein, miteinander verbunden zu bleiben, sich gegenseitig zu verstehen und zur Erreichung gemeinsamer Ziele miteinander zusammenzuarbeiten.

Als Ja’akow nun die beiden Söhne von Josef segnete, wollte er zum Ausdruck bringen, dass das harmonische Verhältnis zwischen ihnen als Beispiel und Vorbild dienen soll für das ganze Volk Jisrael. Jeder Vater (und jede Mutter) soll seine (ihre) Söhne segnen, sie mögen wie Efrajim und Menasche sein.

In kaum einer Situation ist der Segen so aktuell und relevant wie in der heutigen. Streit und Hass prägen den israelischen Alltag. Wir brauchen deshalb diese Bracha. Wir müssen wieder lernen, dass wir einerseits Brüder sind, demselben Volk angehören und deshalb verpflichtet sind, einen Weg zu finden, friedlich miteinander zusammenzuleben. Doch andererseits müssen wir gleichzeitig auch fähig sein, die grossen Unterschiede zwischen uns zu akzeptieren, zu tolerieren und zu respektieren. Denn nur so wird es uns gelingen, zusammenzuarbeiten für eine gemeinsame bessere Zukunft.

David Bollag