Sidra Haasinu 03. Okt 2025

Noch eine Runde

Mit der Gründung des Staates Israel vor mehr als 70 Jahren und spätestens mit dem überragenden und völlig überraschenden Sieg der israelischen Armee während des Sechs-Tage-Krieges im Jahre 1967 hat in der jüdischen Geschichte ein ganz neues Kapitel begonnen. Die Völkergemeinschaft hat – im Schatten der Schoa und als direkte Reaktion darauf – der Gründung des jüdischen Staates zugestimmt und ein grosser Teil der aufgeklärten Bevölkerung weltweit hat Israel während des Krieges im Jahre 1967 unterstützt und seinen Sieg mitgefeiert.

Dieses neue Kapitel der jüdischen Geschichte hat sich dadurch ausgezeichnet, dass die Jahrhunderte der ewigen Verfolgung der Juden nun überwunden schienen. Unter den Juden weltweit hat sich ein Gefühl von Freiheit und Sicherheit, von Stolz und Stärke verbreitet. Ein völlig neues Gefühl, das sehr lange gefehlt hat.

Vor allem in religiösen und nationalistischen jüdischen Kreisen hat sich gleichzeitig ein «Meschichismus» verbreitet, ein Gefühl, die messianischen Zeiten seien nun unmittelbar bevorstehend, wenn sie nicht gar schon begonnen haben. Doch der Jom-Kippur-Krieg im Jahre 1973, der erste Libanon-Krieg im Jahre 1982, die zwei Intifadas und vor allem der Krieg, der am 7. Oktober 2023 ausgebrochen ist und immer noch andauert, haben die Situation vollkommen verändert. Die Unterstützung und das Verständnis für Israel haben drastisch abgenommen und die Kritik an seiner Politik nimmt immer mehr zu. Es ist sogar eine Feindschaft Israel – und allen Juden weltweit – gegenüber zu spüren und in vielen Kreisen wird zur Zerstörung unseres Landes aufgerufen.

In dieser neuen, äusserst schwierigen und beängstigenden Situation kann unsere dieswöchige Parascha eine beruhigende Wirkung auf uns ausüben. Denn in Haasinu findet sich, wie der Midrasch es ausdrückt, «die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft» des jüdischen Volkes (Sifrej, Ende Abschnitt 333). Die ganze jüdische Geschichte wird in unserer Parascha in poetischer, höchst konzentrierter Form vorgestellt und bezieht sich somit auch auf die Gegenwart, auf unsere momentane Situation und unsere Ängste.

Die Parascha erwähnt in Bezug auf die Vergangenheit, dass Gott das jüdische Volk auserwählt, in der Wüste begleitet, beschützt und zum Schluss in sein Land geführt hat (5. B. M. 32, 9-13). Das ist die Basis der ganzen jüdischen Geschichte.

Danach beschreibt die Parascha die Gegenwart des jüdischen Volkes, die sich dadurch auszeichnet, dass das Volk sich von Gott entfernt, ihn verärgert und es deshalb zu einer massiven Verschlechterung im Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk kommt, die dazu führt, dass das Volk verfolgt wird und leiden muss (ibid. Verse 15 ff.).

Doch darauf folgt die Zukunft, in welcher Gott seinem Volk verzeihen, es von seinen Verfolgern befreien wird und die anderen Völker gar dazu übergehen werden, das jüdische Volk zu bewundern und zu loben (Verse 36 ff.).

In der jüdischen Geschichte zeigt sich, dass sich die hier beschriebene Gegenwart und Zukunft immer wieder ereignen, dass sich die jüdische Geschichte zyklisch entwickelt. Verfolgung und Befreiung ereignen sich immer wieder, folgen einander immer wieder. Nach den Jahrhunderten andauernder Verfolgung im Mittelalter ist mit der Emanzipation der Juden in Europa die Hoffnung aufgekommen, wir Juden würden nun von den anderen Völkern und Religionen voll akzeptiert und nicht mehr verfolgt werden. Doch dann folgte die Schoa und hat alle Hoffnungen grausam zerstört. Fast unmittelbar daran schlossen sich die Anerkennung und Gründung des Staates Israel, der Sechstagekrieg und, wiederum, die Hoffnung, die Zeiten der Verfolgung gehörten nun der Vergangenheit an und die «endgültige Erlösung des jüdischen Volkes», habe jetzt begonnen.

Haasinu und ein weiter Blick auf die jüdische Geschichte lassen uns also verstehen, dass die äusserst schwierige Situation, in der wir uns momentan befinden, nichts Neues ist für uns. Nach Verfolgung und Befreiung und den damit verbundenen grossen Hoffnungen haben sich schon oft weitere Verfolgungen abgespielt. Doch auch diese weiteren Verfolgungen sind wieder zu einem Ende gekommen, wir wurden befreit und durften uns wieder Hoffnungen auf eine bessere Zukunft machen.

An dem nun folgenden Simchat Thora, dem zweiten Erinnerungstag an den Ausbruch des jetzigen Krieges, werden wir mit den Thora-Rollen je sieben Runden um die Bima drehen. Bei jedem Mal werden wir Gott bitten, uns zu erlösen. Wir können dies als Ausdruck des zyklischen Verlaufes der jüdischen Geschichte verstehen. So führen uns die Runden vor Augen, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Wir drehen nun noch eine Runde, erinnern uns an den 7. Oktober 2023 und hoffen auf eine sehr baldige Befreiung der Geiseln und auf ein Ende des Krieges.
 

David Bollag