Gewalt unter Teenagern ist in Israel keine Seltenheit mehr. In den letzten Wochen wurden wir Zeugen einer Reihe schwerwiegender und teilweise wirklich erschreckender Vorfälle: Ein Teenager wurde in einer Bildungseinrichtung niedergestochen, Teenager zückten bei einem Raubüberfall Messer, es kam zu vorsätzlichen Brandstiftungen, besonders gewalttätigen Gruppenübergriffen und sexuellen Übergriffen, die als «Mutproben» in den sozialen Medien getarnt waren. Dies sind keine Einzelfälle, sondern Teil eines Phänomens, das eine psychologische und soziale Realität widerspiegelt, die an ihre Grenzen gestossen ist.
Eine ganze Generation lebt heute in einer anhaltenden Realität der Angst und Instabilität. Der Krieg und die ihm vorausgehende soziale Polarisierung haben ein emotional angespanntes Umfeld geschaffen, das Teenager seit Langem begleitet. Wenn die Gesellschaft der Erwachsenen zusammenbricht, spüren junge Menschen dies als Erste. Gewalt unter Jugendlichen entsteht nicht in einem Vakuum, sondern spiegelt das, was um sie herum geschieht, wider. Gewalttätige öffentliche Diskurse, Verunsicherungen über die persönliche Sicherheit, der erleichterte Zugang zu gefährlichen Mitteln und die Erosion familiärer Strukturen wirken sich direkt auf ihre Welt aus. Vielen Eltern fehlen heute die emotionalen oder finanziellen Ressourcen, um ihre Kinder so zu unterstützen, wie sie es gerne würden, und Jugendliche spüren, dass dieser Anker fehlt.
Soziale Medien giessen dabei Öl ins Feuer, indem sie als massive Verstärker von Gewalt wirken. Jede Emotion findet ein extremes Echo, jeder Konflikt wird verschärft. Gefährliche Mutproben, Videos, die Gewalt zeigen, Blossstellungen und emotionale Erpressung füllen den digitalen Raum. Gleichzeitig ist dies aber auch der Ort, an dem viele Teenager ihre Not zum Ausdruck bringen; manchmal ist es der einzige Ort, an dem sie um Hilfe rufen.
Besonders gravierend ist die Situation bei Jugendlichen am Rande der Gesellschaft. Junge Menschen, die in Armut leben, isoliert sind oder keine familiäre Unterstützung haben, sind besonders gefährdet im Hinblick auf gewalttätige Ausbrüche und Drogenkonsum und öfters gefährlichen Situationen ausgesetzt.
Laut unseren Daten aus dem September 2025 sind im Vergleich zur Vorkriegszeit über 60 Prozent psychisch belastet, etwa durch Depressionen, Angstzustände oder Einsamkeit. 35 Prozent zeigen Anzeichen von oder haben Erfahrungen mit häuslicher Gewalt oder Gewalt in der Partnerschaft. Dies entspricht einem Anstieg von 4 Prozent. Die Angst in Bezug auf ihre wirtschaftliche Situation hat um 12 Prozent zugenommen. Viele Teenager berichten von langen Wartezeiten auf Behandlungen und dem Gefühl, dass das System genau dann verschwand, als sie es am dringendsten brauchten. Dieser Vertrauensverlust ist nicht nur traurig, sondern auch gefährlich.
Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass Gewalt unter Jugendlichen nicht das Problem ist, sondern das Symptom. Anstatt zu fragen, was mit den Jugendlichen nicht stimmt, ist es an der Zeit zu fragen, was mit uns nicht stimmt. Die Jugend von heute unterscheidet sich nicht grundlegend von früheren Generationen, aber sie wächst in einer weitaus vulnerableren, chaotischeren und komplexeren Zeit auf. Wenn Erwachsene aus dem Blickfeld verschwinden und Grenzen verschwimmen, füllt Gewalt den Raum, in dem eigentlich Stabilität hätte herrschen sollen.
Um diese Abwärtsspirale zu stoppen, müssen wir jetzt handeln. Die Daten zeigen deutlich, dass systemische Interventionen eine zentrale Voraussetzung für den Fortschritt junger Menschen sind. Eine sinnvolle Präsenz von Erwachsenen in den Räumen, in denen sich Jugendliche aufhalten – Schulen, Nachbarschaften, abends und nachts sowie online – ist unerlässlich.
Obwohl bereits grosse Fortschritte erzielt wurden und gesellschaftliche Systeme heute besser zusammenarbeiten als früher, ist ein nationaler Plan erforderlich, der klare Grenzen mit therapeutischer Unterstützung verbindet. Wichtige Ministerien wie das Gesundheitsministerium, das Sozialministerium, das Bildungsministerium und das Ministerium für Nationale Sicherheit müssen ihre Kräfte bündeln. Wir müssen die Unterstützungssysteme, Elternberatungsprogramme und die Zusammenarbeit zwischen Staat, lokalen Behörden und zivilgesellschaftlichen Organisationen stärken. Ohne gezielte Unterstützung für benachteiligte Jugendliche bleiben alle Bemühungen unvollständig.
Hier setzt die Arbeit von ELEM in Zusammenarbeit mit dem Sozialministerium an. Vor Ort sind die Fachleute der Organisation täglich mit dieser Realität konfrontiert, nachts, auf der Strasse, in Behandlungszentren und im digitalen Raum. Sie erkennen Notlagen, bevor sie eskalieren, bieten Unterstützung in Momenten der Einsamkeit und schaffen stabile Rahmenbedingungen für junge Menschen, die das Vertrauen in ihr Umfeld verloren haben. Diese Arbeit beweist immer wieder, dass Jugendliche, wenn sie eine stabile und wichtige Bezugsperson haben, den Kreislauf der Gewalt durchbrechen und sich ändern können.
Wir dürfen nicht vergessen, dass diese Generation voller Kraft und Hoffnung ist. Diese Jugendlichen sind keine verlorene Generation, sondern eine Generation, die nach Zugehörigkeit, Gehör und Sinn sucht. Die Daten zeigen das Ausmass der Herausforderung und die Arbeit vor Ort zeigt den Weg zur Veränderung. Wenn wir zu den Erwachsenen werden, die sie brauchen – präsent, aufmerksam und stabil –, können wir ihre Zukunft verändern.
Gewalt unter Teenagern ist ein Weckruf. Sie fordert uns auf, das zerfallene soziale Gefüge wieder aufzubauen. Die Entscheidung, wie die kommenden Jahre für diese Generation aussehen werden, liegt in unseren Händen.
Tali Erez ist CEO der NGO ELEM-Israel, welche Programme für benachteiligte und gefährdete Jugendliche in Israel anbietet.
zur lage in israel
05. Dez 2025
Jugendgewalt als Weckruf
Tali Erez