Talmud heute 12. Sep 2025

Im Raum der Stille

Vergangene Woche war ich in Berlin. Als ich durch das Brandenburger Tor lief, sah ich auf dessen Seite eine Tür, die mir bis dahin unbemerkt nicht aufgefallen war. Meine Neugier liess mich nähertreten. Auf dem Eingang stand «Raum der Stille». Dem Pamphlet des Fördervereins entnahm ich, dass die Anreger dieses Projektes, der katholische Pater Peter Kegebein und der evangelische Pfarrer Johannes Hildebrandt, mit der Errichtung dieses Raumes folgende Ziele verfolgten: «Er soll allen Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Weltanschauung, Religion und körperlicher Verfassung, Gelegenheit bieten, einzukehren, eine Weile in Stille Platz zu nehmen, sei es einfach, um zu entspannen, sich von der Hektik der Grossstadt zu lösen und etwas Kraft für die Bewältigung des Alltags mitzunehmen.» Dieser besondere Ort verfolge auch einen weiteren Zweck: «Der Raum der Stille soll eine ständige Aufforderung zu Geschwisterlichkeit und Toleranz unter den Menschen, zwischen den Nationalitäten und Weltanschauungen sein, eine ständige Mahnung gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit - ein kleiner Schritt hin zum Frieden.» «Stille Räume» waren mir bisher aus diversen Flughäfen bekannt, sie sind jedoch a priori als Gebetszimmer gedacht. Das Besondere hier schien, dass der Raum nicht im Vorhinein als Gebetsraum konzipiert wurde, sondern eben einfach nur «zum stillen und friedlichen Verweilen». Also trat ich ein. Im leeren Raum, in welchem mehrere Stühle kreisförmig aufgestellt waren, sassen bereits zwei Männer mittleren Alters. Sie waren arabischen Hintergrunds. Ich nahm Platz. Sie nahmen meine Kippa auf dem Kopf verdutzt wahr. So sassen wir zwölf Minuten lang in eisiger Stille im Raum der Stille und starrten uns an. Es war eine bizarre Erfahrung. Einerseits hatte ich das Gefühl, dass wir uns so viel zu sagen hätten. Andererseits wurde uns ja das absolute Schweigen auferlegt. In dieser ruhigen, aber geladenen Atmosphäre, schweiften meine Gedanken zu unseren Quellen ab. Wie steht es mit der Stille im Judentum?

Die berühmteste Stille in der Thora äussert sich zweifellos in der Reaktion Aharons nach dem plötzlichen Tod seiner Söhne Nadav und Awihu: «Und Aharon schwieg» (3. B.M. 10:3). Man kann sich ein lauteres Protestschweigen kaum vorstellen. Hier charakterisiert sich die Stille durch die menschliche Sprachlosigkeit nach einem erlebten Trauma. Aber die Stille kommt nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Gott zum Ausdruck. In der Vision des Propheten Elijahu wird Gottes Offenbarung so beschrieben: «Und siehe, der Ewige ging vorüber; und ein grosser, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging vor dem Ewigen her; der Ewige aber war nicht im Winde. Nach dem Winde aber kam ein Erdbeben; aber der Ewige war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der Ewige war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam die Stimme eines sanften Säuselns» (1 Könige 19:11–12). Das Göttliche offenbart sich also gemäss dem Propheten Elijahu nicht im bombastischen, angsteinflössenden Getöse, sondern gerade in der sanften Stille. Es ist auch bemerkenswert, dass das jährlich am Jom Kippur stattfindende «Tête-à-tête» zwischen Mensch und Gott, also dem Hohepriester und seinem Schöpfer, in der intimen Stille des Allerheiligsten des Tempels, jenseits pompöser Kulissen, stattfand (3. B. M. Kap. 16).

In anderen Bibelbüchern wird der Stille ihr legitimer Platz in unserem Leben eingeräumt. So erklingt im Buch «Kohelet» («Prediger») der bekannte Satz: «Es gibt Zeiten des Schweigens und Zeiten des Redens» (3:7). Derweil wird im Buche «Mischlej» (Sprüche) der Vorzug des Schweigens gelobt: «Wer seine Lippen im Zaum hält, der ist klug» (10:19). Diese Linie widerhallt auch in nachbiblischen Texten. So wird in den «Sprüchen der Väter» diese Erkenntnis zur charakterlichen Maxime hochsterilisiert. So pflegte der Mischna-Lehrer Rabbi Schimon, Sohn des Rabban Gamliel, zu sagen: «Ich wuchs mein Leben lang unter den Weisen auf und fand nichts Besseres für den Menschen als das Schweigen» (Awot 1:17). Und im selben Traktat äussert sich der grosse Rabbi Akiva noch prägnanter: «Der Zaun um die Weisheit ist Schweigsamkeit» (3:13).

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Judentum der Stille durchwegs positiv gegenübersteht. Sie steht für Weisheit, für Kontemplation, für Bescheidenheit, für ein In-sich-Kehren, aber auch für Traumabewältigung, für stillen Protest und selbst für göttliche Offenbarung. Der grosse Bibel- und Talmudexeget Raschi kommt zu folgender treffender Erkenntnis: «Es gibt nichts Besseres als Verschwiegenheit» (zu 2. B.M. 34:3).

Ich sah meinen arabischen Nachbarn im «Raum der Stille» immer noch in die Augen. Wir hätten so viel Grund gehabt, uns anzusprechen, auszusprechen, anzuschreien! Gerade die Totenstille brachte jedoch etwas Erleichterndes, fast Heilendes mit sich. Das Schweigen führte uns drei irgendwie zur gemeinsamen Essenz zurück, zur simplen Erfahrung, einfach nur Menschen zu sein, Gottes Geschöpfe, in der Stille vereint. Jedes gesprochene Wort, jeder Ton hätte unsere Differenzen hervorgehoben, jeder Laut wäre überflüssig gewesen und hätte unsere verbindende Harmonie gestört. Als sich meine beiden Brüder erhoben und sich gen Ausgang machten, kreuzten sich erneut unsere Blicke. Und zum ersten Mal formten sich unsere drei Lippen zu einem kleinen Lächeln.

Emanuel Cohn unterrichtet Film und Talmud und lebt in Jerusalem.

Emanuel Cohn