In Bezug auf eine halachische Frage, die in unserer Doppel-Parascha erwähnt wird, ist im Moment eine heftige und höchst interessante Diskussion im Gang. Die Diskussion bezieht sich jedoch nicht nur auf diese spezifische halachische Frage, sie repräsentiert auch ganz unterschiedliche prinzipielle Haltungen der Halacha gegenüber.
Die Gebote, die sich in unseren beiden Wochenabschnitten finden, beziehen sich auf Tum’a und Tahora, auf «rituelle Unreinheit und Reinheit». Da wir heute aber keinen Tempel haben, kommt der grösste Teil dieser Gebote im Moment nicht zur Anwendung. Doch die Vorschriften, die sich auf die Menstruationsblutung der Frauen beziehen, sind auch heute integraler Teil des religiösen jüdischen Lebens.
Die Thora schreibt vor, dass eine Frau durch ihre regelmässige Menstruationsblutung für sieben Tage «unrein» wird. (3.B.M. 15, 19) Nach diesen sieben Tagen kann sie in die Mikwe – das «rituelle Tauchbad» – gehen, wird wieder «rein» sein und mit ihrem Mann verkehren können.
In Bezug auf eine Frau hingegen, bei der es ausserhalb der Zeit ihrer regelmässigen Periode zu einer Blutung kommt, schreibt die Thora vor, dass sie während der Zeit dieser Blutung «unrein» ist und zusätzlich danach sieben Tage – sogenannte «sieben reine Tage» – zu zählen habe, um danach in die Mikwe zu gehen. (ibid. Vers 25 ff.) – Das sind die Vorschriften, die sich in der schriftlichen Thora finden.
Die mündliche Thora ergänzt dazu aber, dass sich schon zu Zeiten des Talmuds der Brauch verbreitet habe, dass die Frauen nach jeder Blutung «sieben reine Tage» zählen und erst danach in die Mikwe gehen. Der primäre Grund für diesen Brauch ist, dass es oft nicht leicht ist, zwischen einer regelmässigen und unregelmässigen Blutung zu unterscheiden. – Dieser Brauch hat sich verbreitet, ist von allen halachischen Autoritäten zu allen Zeiten angenommen, in alle Codices aufgenommen worden und hat nun den Status einer «Halacha», einer verbindlichen Vorschrift.
Die jetzige Diskussion ist entfacht worden durch ein Buch, das Daniel Rosenak – ein bekannter und anerkannter religiöser Gynäkologe in Jerusalem – vor einigen Jahren verfasst hat, in dem er die These vertritt, dass es heute angebracht und notwendig sei, zu den ursprünglichen, von der schriftlichen Thora gegebenen Vorschriften zurückzukehren.
Sein Hauptargument ist, dass die Einhaltung der Vorschriften der mündlichen Thora bei vielen Frauen zu – wie er es nennt – «halachischer Kinderlosigkeit» führt. Damit meint er, dass Frauen, die einen kurzen Zyklus haben und die Vorschriften der mündlichen Thora einhalten, oft nicht schwanger werden können. Denn ihr Eisprung ereignet sich einige Tage, bevor sie in die Mikwe gehen und wieder mit ihrem Mann verkehren können, und das bewirkt, dass sie nicht mehr schwanger werden können. – Rosenak führt noch einige andere Argumente für seine These an, auf die hier aber aus Platznot nicht eingegangen werden kann.
Die Position von Rosenak wird von allen orthodoxen Rabbinern ganz und entschieden abgelehnt. Erstens wird gegen Rosenak argumentiert, dass die «sieben reinen Tage» vom Talmud selbst und seither – wie oben erwähnt – zu allen Zeiten von allen halachischen Autoritäten und Codices akzeptiert worden sind und deshalb nicht einfach abgeschafft werden können. Zweitens führen die Rabbiner an, dass diese Art von Kinderlosigkeit recht selten sei, leicht mit Hormonen behandelt und auf diese Art vermieden werden könne. Und drittens sagen die Rabbiner, dass sich das Pro-blem der halachischen Kinderlosigkeit auf individueller Ebene – oft sogar ohne Hormonbehandlung – lösen lasse. In spezifischen, genau zu überprüfenden Fällen sei es im persönlichen, privaten Rahmen möglich – und angebracht – für einzelne Frauen die Zeit vom Beginn der Menstruationsblutung bis zur Mikwe zu verkürzen. Diese Praxis ist seit langer Zeit bekannt und wird angewendet. Es bestehe also – so betonen die orthodoxen Rabbiner – kein Grund, die Vorschrift der mündlichen Thora der «sieben reinen Tage» ganz prinzipiell für alle Frauen für falsch und unverbindlich zu erklären.
Der besonders interessante und erwähnenswerte Aspekt der Diskussion um die Position von Rosenak und die Reaktion der orthodoxen Rabbiner ist nun, dass hier nicht nur darüber diskutiert wird, ob seine These richtig und berechtigt ist oder nicht. Es zeigen sich hier auch prinzipiell unterschiedliche Haltungen der Halacha gegenüber. Während Rosenak selbst und diejenigen, die sich ihm anschliessen, der Meinung sind, dass es heute angebracht und notwendig sei, auch halachisch verankerte Traditionen zu verändern, bringt die Reaktion der orthodoxen Rabbiner klar zum Ausdruck, dass sie die klare Ansicht vertreten, dass dies nicht möglich sei. Um die halachische Tradition und Praxis aufrechterhalten zu können, sei es erforderlich, an den Entscheidungen des Talmuds und der Codices festzuhalten.
Erst wenn wir wieder ein Sanhedrin, eine von allen anerkannte oberste halachische Instanz haben werden, werde es möglich sein, Veränderungen dieser Art an der Halacha vorzunehmen.
Sidra Tasria-Metzora
02. Mai 2025
«Halachische Kinderlosigkeit»?
David Bollag