sidra Behar-Bechukkotaj 23. Mai 2025

Ein neuer Bund

Die wöchentliche Thora-Vorlesung hat immer das Ziel, uns etwas für unser heutiges Leben beizubringen. Die dieswöchige Parascha illustriert uns dies auf ganz direkte Art.

Esra Hasofer, der das jüdische Volk aus dem babylonischen Exil nach Israel zurückgeführt hat, hat einige «takanot» eingeführt, einige neue Verordnungen erlassen (Bawa Kama 82a). Eine davon kommt diesen Schabbat zur Anwendung: «Esra hat dem jüdischen Volk die Takana erlassen, dass sie die Verfluchungen in Thorat Kohanim vor Azeret lesen sollen» (Megila 31b). Damit ist gemeint, dass die Strafen, die sich in Paraschat Bechukotaj finden (die dem jüdischen Volk angedroht werden, falls es die Vorschriften der Thora missachtet) vor Schawuot aus der Thora vorgelesen werden sollen. Der Zyklus der Wochenabschnitte solle so eingeteilt werden, dass Bechukotaj immer vor Schawuot gelesen wird.

Um zu verstehen, was hinter dieser «takana» steckt, muss erwähnt werden, dass in der rabbinischen Literatur davon gesprochen wird, dass Gott mit dem jüdischen Volk an verschiedenen Stellen seiner Geschichte einen Bund («brit») geschlossen hat (vgl. Brachot 48b). Unter anderem hat er in Ägypten einen Bund mit ihnen geschlossen, bevor er sie aus der Versklavung befreit hat, und einen beim Berg Sinai, als er ihnen die Thora übergeben hat.

Rabbi Joseph B. Soloveitchik (1903–1993), der grosse Wegweiser der modernen Orthodoxie, bezieht sich in «Kol dodi dofek», einer veröffentlichten und unterdessen sehr berühmten Rede, die er am Jom Haazmaut 1956 gehalten hat, auf diese beiden Bünde. Er analysiert sie sehr sorgfältig und entdeckt, dass sie sich klar voneinander unterscheiden.

«Brit Mizrajim», der Bund, den Gott mit dem jüdischen Volk vor dessen Auszug aus der Knechtschaft in Ägypten geschlossen hat, ist ein Bund, der dem Volk von aussen auferlegt worden ist. Das Volk ist versklavt, unterdrückt und nicht fähig, freie Entscheide zu fällen. Gott sieht das versklavte Volk und entscheidet sich, ihm zu versprechen, es zu befreien. Zudem ist das Volk zu diesem Zeitpunkt seiner Geschichte dadurch miteinander verbunden, dass es die Versklavung gemeinsam erleben und erleiden muss. Es ist eine Leidensgemeinschaft.

Beim «Brit Sinai» hingegen, dem Bund bei der Offenbarung der Thora, ist das Volk in einer komplett anderen Lage. Es ist nicht mehr versklavt, sondern ein freies Volk. Es geht den Bund mit Gott aus freien Stücken, aus eigener und freier Entscheidung ein und erklärt: «Alles, was Gott uns befiehlt, wollen wir ausführen und hören» (2. B. M. 24, 7). Das bedeutet auch, dass der Zusammenhalt und die Verbindung im Volk nun nicht mehr durch die gemeinsame Vergangenheit bestimmt ist, sondern durch die gemeinsame Zukunft, die das Volk sich kreieren will, durch die Ziele, die es gemeinsam erreichen will.

«Brit Sinai» zwischen Gott und dem jüdischen Volk wird im 2. B. M. ausführlich beschrieben. Die Versprechungen in unserer Parascha, die dem Volk gemacht werden, falls es die Verpflichtungen der Thora einhält, und die ausführlich beschriebenen Strafen – Verfluchungen –, falls nicht, dienen als Stärkung und Wiederholung des Bundes (vgl. v.a. 3. B. M. Kap. 26, Verse 9 und 15).

Nun können wir verstehen, warum Esra die «takana» erlassen hat, unsere Parascha jedes Jahr vor Schawuot zu lesen. Vor Schawuot, dem Fest, das daran erinnert, dass wir die Thora erhalten haben, soll uns dieser Bund, den Gott für alle Zeiten mit uns geschlossen hat, in Erinnerung gerufen werden (vgl. dazu ibid. 26, 46).

Die zeitgenössische, hoch aktuelle Bedeutung dieser Thora-Vorlesung diese Woche ist nun darin zu finden, dass auch wir, wie das jüdische Volk damals, «Brit Mizraim» und «Brit Sinai» erleben. In den ersten Jahren und Jahrzehnten nach der Schoah waren wir eine Leidensgemeinschaft. Die bittere Erfahrung des Holocaust hat uns miteinander verbunden. Wir waren ein geschlagenes und verletztes, verfolgtes und dezimiertes Volk, unfrei, ohne Heimat und ohne ein eigenes Land. Mit der Gründung des Staates Israel und mit der Rückkehr eines grossen und bedeutenden Teiles des jüdischen Volkes in seine eigene Heimat und den freien Staat Israel beginnen wir nun, dem Zustand des jüdischen Volkes in der Zeit des «Brit Sinai» ähnlich zu sein. Wir sind wieder frei und uns verbindet jetzt primär die Zukunft, die wir hier in Israel gestalten, die grossen Ziele, die wir hier gemeinsam erreichen wollen.

So führt uns die dieswöchige Thora-Vorlesung vor Augen, dass Gott in unserer Zeit einen neuen Bund mit uns geschlossen hat, «Brit Jisrael», den Bund mit der Gründung des freien Staates Israel.

David Bollag