Das Wichtigste bei den «zizit», den Schaufäden am «talit», ist «tchelet». Wie uns die Thora am Ende unserer Parascha mitteilt: «Sie sollen sich Zizit an den Ecken ihrer Kleider machen (…) und sollen an den Zizit einen Faden aus ‹tchelet› geben. Und ihr werdet es sehen und euch an alle Gebote Gottes erinnern» (4. B. M. 15, 38 f.). Wenn wir das «tchelet» sehen, sagt uns die Thora hier, bewirkt dies, dass wir an Gott denken und dadurch daran erinnert werden, alle seine Gebote zu erfüllen.
«Tchelet» ist eine bläuliche Farbe, die aus dem Extrakt der Schnecke Murex trunculus hergestellt wird. Der Talmud erklärt, wie «tchelet» uns an alle Gebote Gottes erinnert: «Das ‹tchelet› gleicht der Farbe des Meeres, das Meer dem Himmel und der Himmel dem göttlichen Thron» (Menachot 43b). So erinnert uns das «tchelet» an Gott und seine Gebote.
Zum weiteren Verständnis muss hier kurz erwähnt werden, dass das Wort «tchelet» in der aschkenasischen Aussprache «tcheles» lautet.
Rabbi Nachman von Bratzlaw (1772–1810) war einer der originellsten und begabtesten chassidischen Rebbes aller Zeiten. In seinen von seinem Schüler Rabbi Natan niedergeschriebenen Lehren erklärt er auf seine ganz besondere Art, wie «tchelet» uns seiner Ansicht nach an die Gebote Gottes erinnert.
Rabbi Nachman geht davon aus, dass «jeder Jude im Innersten seiner Seele (…) zu jeder Zeit auf das Ziel des Lebens schaut» (Likutej halachot, Orach chajim, Hilchot netilat jadajim 4, 8). Er meint damit, dass jeder ein Leben führen möchte, das einen Inhalt und einen Sinn hat. In seiner kabbalistischen Sprache drückt er es auch so aus: «Jeder Jude sehnt sich im Innersten seiner Seele (…) nach Gott (…) und möchte sich mit dem unendlichen Licht verbinden» (ibid.).
Rabbi Nachman weiss aber sehr genau, dass es uns Menschen nicht gelingt, uns dieses Ziel ständig vor Augen zu halten. Wir werden immer – «auf unterschiedlichste Arten und zu jeglicher Zeit» (ibid.) – abgelenkt und verlieren das Ziel aus den Augen.
Genau da kommen die Zizit ins Spiel. Es muss dazu erwähnt werden, dass die Halacha (das jüdische Religionsgesetz) nicht nur vorschreibt, beim Morgengebet einen Talit mit Zizit und «tcheles» zu tragen, sondern den ganzen Tag einen kleinen Talit, einen «talit katan», mit Zizit zu tragen.
Rabbi Nachman betont da, dass der «talit katan» mit den Zizit die erste Vorschrift ist, die wir am Morgen zu erfüllen haben. Es soll dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass wir uns von Beginn bis Ende des Tages daran erinnern sollen, die Gebote Gottes zu erfüllen.
Hier nun muss kurz darauf hingewiesen werden, dass das hebräische Wort für «Ziel», von dem Reb Nachman in der oben zitierten Passage spricht, «tachlit» lautet; und dass dieses Wort im aschkenasisch-jiddischen Jargon «tachles» ausgesprochen wird.
Die chassidische Originalität und Begabung von Reb Nachman zeigt sich nun an dieser Stelle. Reb Nachman deutet in seinen Erklärungen an, dass die beiden Worte «tachles» und «tcheles» sehr ähnlich tönen und eng miteinander verwandt sind: «Tcheles bechinas hatachles», «tcheles» und «tachles» sind inhaltlich direkt miteinander verbunden (ibid.). Er drückt damit auf sehr kunstvolle Art aus, dass die Aufgabe von «tcheles» darin besteht, uns zu helfen, ein Leben mit «tachles» zu führen. Uns während des ganzen Tages und somit während unseres gesamten Lebens zu erinnern, an Gott zu denken und seine Gebote zu erfüllen, um dadurch ein Leben mit Ziel und Inhalt zu führen.
Zum Abschluss kann hier hinzugefügt werden, dass die Schnecke, aus deren Extrakt «tchelet» hergestellt wird, während Jahrhunderten unbekannt war und deshalb alle Fäden der Zitit weiss blieben. Vor einigen Jahren ist die genaue Identität der Schnecke Murex trunculus wiederentdeckt worden und ein immer grösserer Teil der Juden trägt nun wieder einen «talit», an dessen Ecken je ein Faden aus «tchelet» zu sehen ist.
Im Sinne von Reb Nachman können wir heute also dank des wiederentdeckten «tchelet» wieder ein Leben mit Zielen, mit Inhalt und Sinn führen. Ein Leben mit «tachles».
Sidra Schelach Lecha
20. Jun 2025
Ein Leben mit «tachles»
David Bollag