Vor 120 Jahren fand in Basel der siebte Jüdische Weltkongress statt. Es war der erste jüdische Kongress ohne den Zionistenführer Theodor Herzl, der ein Jahr zuvor verstorben war. Im Mittelpunkt standen vor allem Trauer und Machtkämpfe. Besonders das Chaos, das der endgültigen Ablehnung des sogenannten Uganda-Programms vorausging, ist in Erinnerung geblieben. Dieser Streit zerriss die zionistische Bewegung und erforderte sogar das Eingreifen der Schweizer Polizei.
Eine heute fast in Vergessenheit geratene Rede mit prophetischem Charakter wurde am Rande des Kongresses gehalten: die des in Russland geborenen jüdischen Linguisten und Erziehers Jizchak Epstein (1862–1943). Unter dem vielsagenden Titel «Die verschwundene Frage» machte Epstein, der sich bereits 1886 in Palästina niedergelassen hatte, auf die triviale, jedoch übersehene arabisch-jüdische Frage in Palästina aufmerksam: «Unter den schwierigen Fragen, die mit der Idee der Wiedergeburt unseres Volkes auf seinem Land zusammenhängen, gibt es eine, die alle anderen überwiegt: die Frage nach unserem Verhältnis zu den Arabern. Von deren richtiger Beantwortung hängt die Verwirklichung unserer nationalen Hoffnungen ab. Doch diese Frage wurde nicht einfach vergessen, sondern ist aus dem Bewusstsein der Zionisten komplett verschwunden.»
Epstein, der sowohl das Wachstum der einheimischen Bevölkerung als auch die starke Bindung der Fellachen an das Land miterlebt hatte, versuchte, seine Mit-Zionisten vor ihren falschen Vorstellungen von der örtlichen Gemeinschaft zu warnen: «Wir haben gehört, dass die Bevölkerung Palästinas mehr als 600 000 Menschen beträgt. Selbst wenn wir von dieser Zahl 80 000 Juden abziehen, gibt es immer noch mehr als eine halbe Million Araber (...), von denen 80 Prozent ausschliesslich von der Landwirtschaft leben und das gesamte Ackerland besitzen (...). Es ist an der Zeit, mit dem Irrglauben der Zionisten aufzuräumen, das Land in Palästina liege unbewirtschaftet brach, weil es an Arbeitern mangele oder die Bewohner faul seien (...). Es gibt keine verlassenen Felder. Im Gegenteil: Jeder arabische Bauer versucht, seine Parzelle mit dem angrenzenden Land zu erweitern (...). Es gibt ein ganzes Volk, das seit Jahrhunderten dort lebt und niemals auf die Idee käme, wegzugehen.»
Epstein lehnte die damals unter Zionisten weit verbreitete Methode des Landerwerbs entschieden ab. Selbst wenn diese rechtlich korrekt sei, so argumentierte er, betreffe sie in erster Linie eine Minderheit von Landbesitzern und lasse die einfachen arabischen Landarbeiter, die sehr an ihrem Land hängen, völlig ausser Acht: «Wenn wir kommen, um das Land zu übernehmen, stellt sich sofort die Frage: Was werden die arabischen Bauern tun, wenn wir ihnen ihr Land abkaufen?»
Der vor allem als Pädagoge tätige Epstein protestierte gegen die «Schande» der Ignoranz der Juden gegenüber den Arabern in Palästina und setzte sich für die Aufklärung der Zionisten in dieser Frage ein. Er betonte die Ähnlichkeit der beiden Völker und die Tatsache, dass sie einander ergänzen. Die Araber, die das Land besser kennen als jeder andere, könnten den Juden zeigen, wie es bewirtschaftet wird. Im Gegenzug könnten die Juden den Arabern dabei helfen, ihre Armut und Unwissenheit zu überwinden: «Diese beiden Völker, die Araber und die Hebräer, könnten die jeweiligen Nachteile des anderen ausgleichen. Was wir den Arabern bieten können, können sie von keinem anderen Volk erhalten. Jedes Volk, das unter dem Deckmantel eines finanziellen Retters in dieses Land käme, würde es erobern, die Menschen versklaven und sich zueigen machen wollen. Wir sind nicht so, wir haben keine Armee und keine Kriegsschiffe. Die Versklavung oder Herabwürdigung unserer Nachbarn ist für uns undenkbar.»
Dieser Text ist der Grund, warum man sich heute vor allem an Epstein erinnert. Vielleicht ist es genau dieser Text, wegen dem er heute vergessen ist. In einer Zeit, in der sich die zionistische Bewegung vorwiegend mit der «jüdischen Frage» beschäftigte, ist es kaum verwunderlich, dass die «arabische Frage» beiseitegeschoben wurde. Epstein gab jedoch nicht auf: Er war einer der Gründer der Brit-Schalom-Bewegung, die sich für die Gleichberechtigung der Araber in Palästina einsetzte. Gerade heutzutage, in einer Zeit, in der der Zionismus oft einseitig betrachtet wird, sollte man sich vielleicht auch an seine Stimme erinnern. Er war einer von vielen, die ebenfalls ein wichtiger Teil der zionistischen Bewegung waren.
Oded Fluss ist Co-Leiter der Bibliothek der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich.
standpunkt
05. Sep 2025
Die verschwundene Frage
Oded Fluss