Das Jüdische Logbuch 14. Dez 2018

Die Maxime der Unvernunft

Marrakesch, Dezember 2018. Die schneebedeckten Berge leuchten in den blauen Himmel. In der Ebene von Marrakesch wärmt die klare Sonne bereits am Morgen die Kälte der Nacht weg. Die Berber strömen aus allen Richtungen in die Stadt. Der jüdische Friedhof am Südende der Stadt ist soeben restauriert worden und gibt den Blick frei auf Tausende von weissbemalten Gräber. Viele ohne Grabsteine. Viele anonyme Opfer einer Pestwelle im Mittelalter. Beim täglichen Gang über die Plätze der Stadt und durch die Medina mit ihren Bazaren und Geschäften erschliesst sich die Atmosphäre des afrikanischen Kontinents wieder neu. Vieles von dem, was Elias Canetti in seiner Literaturchronik «Die Stimmen von Marrakesch» vor Jahrzehnten so brillant festgehalten hat, ist noch da – und doch anders. Doch die Nostalgie und die Wehmut für das, was hätte sein können und nicht mehr ist, ist oft ein schlechter Ratgeber, um die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen –­ gerade dann, wenn die Moderne und ihre Entwicklung den Fortschritt immanent in sich tragen. Ob Fortschritt allerdings auch Rückschau, Zurückbesinnung und kulturelles Bewusstsein enthalten kann, ohne ihn abschaffen zu wollen, wird letztlich Teil gegenwärtiger Debatten sein werden. Der Klimawandel und die weltweiten Migrationsbewegungen werden die politische Agenda der Zukunft noch intensiver herausfordern. Veränderte Lebensgrundlagen und zunehmende Klimaeskalationen oder gar -katastrophen werden bis tief in nationale und teils lokale Parlamente die Politik bestimmen. Haben anfangs der Woche an der UN-Konferenz von Marrakesch dem Migra­tionspakt 164 Staaten zugestimmt, zeigt sich in diesen Tagen bei der Klimakonferenz in Kattowitz, dass Einigungen, die eine zunehmende Erd­erwärmung bremsen oder gar stoppen könnten, in machtpolitischem und nationalem Eigensinn ertränkt werden oder wirksame Massnahmen nur halbpatzig durchgesetzt werden können. Da hilft auch nicht, dass der Klimawandel nicht Thema der Zukunft, sondern der Gegenwart, die Veränderungen nicht Theorie, sondern bereits vor der Haustür sichtbar sind. Die Frage, ob der Wandel von Menschen gemacht oder Teil der Zyklen ist, haben Wissenschaftler längst be­­antwortet. Unabhängig von Kausalitäten ist aber jetzt schon klar, dass die Veränderungen sich nicht über Jahrtausende anbahnen, sondern in Dekaden und noch kürzen Zeitabschnitten manifestieren. Es braucht keine Hollywoodapokalypsen, um zu wissen, dass Megastädte und ganze Regionen in den nächsten Jahren kollabieren und sich damit auch geopolitische Veränderungen mit globalen ergeben könnten. Bereits heute wachsen Kinder von Peking, Mexiko-Stadt bis Neu Delhi in einer Luft auf, die Grenzwertregulierungen etwa in der Schweiz um ein Mehrfaches überschreiten. Dass gerade in der Klimapolitik klassische demokratische Entscheidungswege versagen, zeigt sich nicht erst, seitdem die USA sich auch in Fragen des Klimawandels verabschiedet haben. Kleine Nationen kämpfen meist auf aussichtslosem Posten gegen die täglich mehr sichtbar werdenden Konsequenzen. Viele indigene Bevölkerungen weisen seit Jahren auf die Problematik hin und leiden zusehends an den Konsequenzen einer von der Natur entkoppelten, sogenannten fortschrittlichen Gemeinschaft. Dass da die Religionsgemeinschaften nicht vorrangig für den Schutz von Natur und Planeten mit Blick auf das ihnen zugrunde liegende Schöpfungsnarrativ fokussieren, ist ebenso frappierend wie die Tatsache, dass Politiker und Funktionäre diesen genauso angehören und das übliche Wasser predigen, bevor sie dann den belasteten Wein trinken. In Marrakesch leuchtet der Himmel rot. Auf dem Platz Jemaa el Fna tritt langsam die Dämmerung ein. Die Restaurateure haben bereits ihre mobilen Küchen aufgestellt und bereiten sich auf den Ansturm der vor allem einheimischen Gäste vor. Die Schlangenbeschwörer spielen die Flöte, und die Ge­­schichtenerzähler scharren Hunderte von Zuhörern um sich. Sie erzählen von den Mythen und Legenden von einst. Gebannt hören Kinder, alte und junge Frauen und Männer zu. Daneben spielt die rhythmische Musik einer Gesellschaft auf, die mit den Zyklen der Natur lebt und sie kulturell so stark verinnerlicht hat. Die Natur wird mit dem Klimawandel zurechtkommen. Der Mensch nicht oder nur bedingt. Wenn die Maximen der Vernunft nicht rasch das darin begründete Handeln der Politik zeitigt, wird auch die Schöpfungsidee ad absurdum geführt. Irgendwann werden Kinder in Laboren gezeugt werden können, gleichsam wie heute schon Tomaten ohne Erde, Luft und Sonne in Plantagen gezüchtet werden können. Ob allerdings Sinn darin bestehen kann, dass der Mensch Natur überwinden und losgelöst von ihr in künstlichen Welten auf der Erde oder im Exil auf anderen Planeten leben kann, hat letztlich wenig mit Nostalgie, sondern mit Entfremdung und Transformation zu tun.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann