das jüdische logbuch 12. Apr 2024

Babylonisches Missverständnis

Berlin, April 2024. Die Berliner Schnauze sitzt am Steuer des Taxis auf dem Weg zum Rosa-Luxemburg-Platz. Seit «Night on Earth» wird Taxifahren zum Stereotyp des Films. In Berlin erfolgen die Chauffeur-Analysen zu Gesellschaft und Politik ohne Fragen heuausposaunt - über die Bundesregierung, den Ukraine-Krieg, natürlich über Juden, Muslime und so fort. Was ist eigentlich mit den Dingen, die gesagt, geschrieben oder öffentlich verhandelt werden sollen und in Zeiten von Krisen, Konflikten, Kriegen nicht geäussert werden? Die öffentliche Debatte ist kein Muss. Doch eigentlich ist sie ein charakteristisches Selbstverständnis der freien, offenen, demokratischen Welt geworden. Mehr als das: Sie ist ihr unbegrenzter Rahmen, macht sie selbst ausmacht, unterscheidet sich von anderen Konzepten von öffentlichem aber dann oft unfreiem Raum. Das heisst nicht, dass sie das einzig wahre oder richtige sein muss. Öffentliche Aussagen macht angreifbar – und können Stärke zugleich sein. Sie erfordert Kraft. Konzepte der Öffentlichkeit wandeln sich, eine Kommunikationsindustrie mit Beratern, Agenturen und Lobbyisten bedroht freie Debatten, framen, formieren, spinnen sie. Das frei gesprochene Wort wird verdrängt in einer Gesellschaft, die Öffentlichkeit fetischisiert, doch die freie Öffentlichkeit korrumpiert, indem sie sie zunehmend inszeniert. Öffentlichkeit wird angestrebt, zum Massstab der Dinge: Was Öffentlichkeit nicht erreicht, bekommt eine andere Relevanz. Zugang zu Öffentlichkeit reguliert sich immer weniger durch das bessere Argument, sondern durch privilegierten Zugang, Technik, Lobbying. Dadurch wird Debatte nicht wahrer und sie dekonstruiert sich oft selbst. Der öffentliche Diskurs cancelt sich oft selbst, und wer erlebt nicht, in aktuellen Debatten zu Israel-Palästina, zu jüdischen oder innerjüdischen und zu so vielen anderen Themen, dass noch weniger gilt, was gesagt, sondern wann es und von wem gesagt wird. Abseits der blutigen Kriege tobt ein verbissener sektiererischer Kampf oft im Grenzbereich von Konspiration und missbrauchter Öffentlichkeit. Die Ideologie der Besserwisserei, der Verlautbarungen und Abkanzelung anderer etwa durch Drohung mit einer instrumentalisierten Öffentlichkeit verengt nicht nur Inhalte, sondern entgrenzt die Selbstbegrenzung, da das Kryptische das Ungesagte zumindest andeutet. – Die Berliner Schnauze redet weiterhin drauflos. Vieles, was heute allerdings ausserhalb des Taxis – warum auch immer – nicht mehr gesagt werden kann, wird irgendwann gesagt und dann Normalität. Konkret: der innere Gehalt der Dinge ändert sich nicht, wenn sie nicht gesagt werden. Vielleicht aber hätten die gesagten Dinge in einer Gesellschaft Erkenntnis zum besseren geändert, wären sie doch früher gesagt worden.

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann