Sidra Wajischlach 05. Dez 2025

Der Freudsche Versprecher

Jakobs Kampf mit dem mysteriösen Engel ist auf psychologischer Ebene wohl eine der herausragendsten Episoden der Thora. Dies beginnt bereits mit der Anschauung Maimonides', wonach es sich bei diesem Kampf Jakobs um nichts anderes als einen Traum handelte. Nachmanides jedoch attackiert diese Meinung aufgrund zweier gezielter Fragen: Erstens, wenn es sich wirklich nur um einen Traum handelte, dann wäre Jakob doch auch nur im Traum an der Hüfte verletzt worden – wieso hinkt er dann in der physischen Welt, nachdem er aufgewacht ist? Und zweitens, wovor hatte Jakob denn dann Angst, als er sagte: «(...) denn ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und meine Seele wurde gerettet» (1.B.M. 32:31)? Hatte er nicht schon furchteinflössendere Träume und Offenbarungen erlebt?

Auf die erste Frage antwortet der Bibelkommentator Isaak Abrabanel mit einer verblüffenden Antwort: «Die physischen Glieder werden von den seelischen Kräften beeinflusst (....), und so ist die Sache mit Jakob gemäss Maimonides zu verstehen.» Mit anderen Worten: Jakobs Hinken ist nichts anderes als eine psychosomatische Reaktion. Dementsprechend ist die Psychoanalytikerin Dorothy Zeligs der Meinung, dass Jakobs Kampf einem inneren Ringen entspricht: «Jakobs Ringen im Traum symbolisiert nicht nur den Willen, sich vor der Aggression anderer zu schützen. Auf einer tieferen Ebene musste sich Jakob vor seinen eigenen Gefühlen in sich selbst schützen.»

Dies führt uns zur zweiten Frage Nachmanides': Was beschäftigte denn Jakob so? Was beängstigte ihn? Es scheint, dass sich Jakob hinsichtlich des emotionsgeladenen Treffens mit seinem Bruder Esaw ernsthafte Gedanken über ihre gemeinsame Vergangenheit machte. Sein einige Verse zuvor erfolgter Ruf gegenüber Gott «Ich bin zu gering aller Barmherzigkeit und aller Treue, die Du an Deinem Knechte getan hast» (32:11) war nicht einfach ein Lippenbekenntnis, sondern entsprach der Selbstwahrnehmung Jakobs. Er hatte das Gefühl, dass ihm all das Glück, das Gott ihm zukommen liess, nicht zustand. Vor dem Treffen mit seinem Bruder, sprich seiner Vergangenheit, kamen in Jakob selbstzerreissende Gewissensbisse auf. Diese Angst vor dem nicht mehr zu verhindernden Blick in die Augen seines Bruders, den er vor über zwei Jahrzehnten übers Ohr gehauen hatte, äusserte sich im Hinken: Jakob wusste, dass er vorwärtsschreiten musste, es gab keinen Ausweg mehr, aber er bremste, er schleifte sich dahin. Er wollte und er wollte nicht. Er konnte und er konnte nicht. Aber er musste. Sein Gang war schwer, bedrückt. Alte Wunden zu öffnen, tut weh. Besonders wenn sie nie wirklich verheilt sind.

Dann war es so weit: das schicksalhafte Treffen. Als Esaw seinen Bruder fragte, was es mit all dem Hab und Gut auf sich habe, erwiderte Jakob ihm faszinierenderweise: «(…) wenn ich Gnade in deinen Augen gefunden habe, dann nimm mein Geschenk aus meiner Hand an! Denn dafür habe ich dein Angesicht gesehen, wie man das Angesicht Gottes sieht, und du bist mir wohlwollend begegnet. Nimm doch meinen Segen an, den ich dir zugebracht habe» (33:11). Während Jakob zum Beginn seiner Worte noch vom «Geschenk» («michna») sprach, das er seinem Bruder gerne überreichen wollte, wechselte er zum Ausdruck des «Segens» («birchati»). Der scharfsinnige Philosoph Jeschajahu Leibowitz erkennt darin nichts anderes als einen Freudschen Versprecher: «Es gibt keinen Zweifel, dass Jakob dieses entlarvende Wort aus dem Mund fällt, ohne dass er es merkt, worin die moderne Psychoanalyse die Existenz eines Unterbewusstseins in der Seele des Menschen erkennt. Jakob äussert seinen seelischen und ihn bedrückenden Schmerz, als er sich der ‹berachot›, also an den ‹Segen›, erinnert, welchen er von seinem Bruder gestohlen hat. Jetzt aber wünscht Jakob, für seine Tat Rechenschaft abzulegen. Erst nach zwanzigjähriger Verdrängung befreit sich Jakob nun von seiner quälenden Last, als ihm die Worte ‹Nimm doch den Segen von mir an› entschlüpfen.»

Jetzt hatte sich Jakob seinen Namen «Jisrael» verdient, denn endlich konnte Jakob «aufrichtig vor Gott» stehen: «jaschar-el». Er hat mit sich selbst gerungen und die Verantwortung für sein Leben wahrgenommen. Seine Flucht vor sich selbst – «Jakob» kommt von «akev», was Ferse bedeutet – hat ein Ende gefunden.

Nach dem heilenden Treffen mit seinem Bruder berichtet die Thora, dass Jakob «schalem, zu der Stadt Schechem zog» (33:18). Das Wort «schalem» bedeutet «in Frieden» oder auch «vollkommen», worauf Raschi anmerkt: «Vollkommen in seinem Körper, denn er hatte sich von seinem Hinken geheilt.» Nachdem Letzteres ein psychosomatisches Symptom war, leuchtet es nur ein, dass Jakob nach der Heilung seiner Psyche wieder aufrecht und ohne zu humpeln durch das ihm gelobte Land ziehen konnte. Jakob war seine seelische Bürde los und somit auch die Bleiklötze an seinen Füssen.

Emanuel Cohn