Das Jüdische Logbuch 16. Nov 2018

Demokratie kann nur liberal sein

Budapest, Oktober 2018. Prächtig und selbstbewusst scheint das Parlament am Ufer der Donau. Hell beleuchtet in der wolkenlosen Nacht. Das Wasser ist ruhig. Schiffe fahren kaum bei diesem viel zu tiefen Wasserstand. Vom Balkon des Europäischen Jugendzentrums auf einem Hügel in Buda eröffnet sich ein weiter Blick auf die Pest-Seite von Ungarns Hauptstadt. Es ist ein milder Herbstabend. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der ungarischen Limmud-Konferenz diskutieren angeregt über die vorangegangene Filmvorführung. In Budapest leben über 60 000 Juden. Rund um die Grosse Synagoge von Budapest im Elisabethviertel finden sich jüdische Restaurants oder Bars. Es ist das belebte Ausgehviertel der Stadt. Auch an diesem Abend sind die Bars voll. Im Café Spinoza spielt eine Klezmergruppe und gegenüber in der Lite Bar erklingt jüdischer Jazz mit Adaptionen von Stücken der Barry Sisters. Die jüdischen, nicht koscheren Restaurants um die Ecke sind alle ausgebucht. Die Synagoge an der Dohnányi-Strasse («Tabakstrasse») nennen die Einheimischen daher Tabaktempel in Anlehnung an den Strassennamen. Sie wurde 1859 fertiggestellt, gilt als die grösste von Europa und zeigt den Aufbruch des Judentums in die Emanzipation, als neben den Einheitsgemeinden die orthodoxe Austritts- und liberale Gemeinden etabliert wurde. In der Synagoge wird seit Anbeginn der neologische Ritus, vergleichbar mit jenem der amerikanischen «Conservative»-Gemeinden, befolgt. Die Synagoge steht symptomatisch für das europäische Judentum. Das Geburtshaus von Theodor Herzl gehört zum Komplex der Synagoge, an deren Hinterseite befindet sich das Denkmal an die deportierten und ermordeten Juden von 1944 mit den Erinnerungstafeln an die Judenretter und «Gerechten unter den Völkern» Raoul Wallenberg und natürlich den Schweizer Konsul Carl Lutz, die Helfer Peter Zürcher oder Ernst Vonrufs. Es ist eine Stadt zwischen jüdischem Aufbruch, dem immensen Erbe jüdischer Denkerinnen und Denker, Kulturschaffenden oder Gelehrten und Assimilation, die Stadt, in der die Hagana 1944 aus dem damaligen Palästina versuchte, Juden zu retten und die Fallschirmspringer Perez Goldstein und Hannah Szenes schliesslich hingerichtet wurden. Die Stadt, von der aus Rudolf Kasztner mit einem Transport rund 1300 Juden rettete. Die Stadt zwischen Kaiserreich, Kommunismus und Isolation. Mit Blick auf das ungarische Parlament erzählt der Präsident der jüdischen Gemeinden Ungarns und Vizepräsident des Jüdischen Weltkongress Andras Heisler vom jüdischen Leben Ungarns. Im Gegensatz zu vielen anderen Städten Europas könnten Juden unbehelligt mit Kopfbedeckung auf der Strasse herumlaufen. Rund 100 000 Juden und 165 000 Menschen mit jüdischen Wurzeln lebten im Lande. Vaterjuden würden wie in anderen osteuropäischen Ländern weitgehend in die Gemeinden integriert. Mit dem Orbán-Regime habe man sich arrangiert, es herrsche eine Art pragmatische Beziehung. Die Regierung unterstützt das jüdische Leben, hilft bei Sanierungen etwa von Friedhöfen. Doch alle wissen, dass Viktor Orbáns Agitationen mit Blick auf Machterhaltung eine Stabilität auf Zeit bedeuten und Allianz mit ganz rechtsgerichteten nationalistischen und ebenso offenkundigen antisemitischen Parteien eine Frage der Zeit sein kann. Die Holocaust-Überlebende und Philosophin Ágnes Heller bezeichnet Viktor Orbán offen als Tyrannen und beschreibt die Unterwanderung von Institutionen durch das Regime, das sie nicht als singuläres Phänomen, sondern Teil einer weltweiten nationalistischen Entwicklung sieht. Im Gegensatz zum Horthy-Terror sieht sie heute eine Art Refeudalisierung, die über der alten parteipolitischen Matrix steht. Anders als Hannah Arendt, deren Lehrstuhl sie in New York innehat, verortet sie das Wesen des Despotismus immer wieder in der Anbindung an eine Art idenditäre Kausalität. Wir sprechen über das Ungarn der Gegenwart und eine Hetzkampagne gegen den jüdischen Exilungarn George Soros. Für viele galt die Plakatkampagne Orbáns gegen Soros vor einigen Monaten als eine der antisemitischsten der Nachkriegszeit. Andere sahen sie als eine Aktion gegen den prominentesten Vertreter liberaler Bewegungen. Ungarns Juden allerdings ist die differenzierte Einordnung der Hetze von Orbán gegen Soros weniger wichtig, denn sie wissen, dass sie im Endeffekt die Ressentiments der Antisemiten erreichen und Wirkung erzielen, unabhängig von der Frage, ob sie antisemitisch gedacht waren. Es ist das Bauchgefühl der Jüdinnen und Juden in Ungarn, das viele in Europa in den letzten Jahren auch immer wieder befallen hat. Andras Heisler verweist auf eine erscheinende umfassende empirische Studie zum Antisemitismus in Ungarn. Dieser hätte sich über Jahre nicht verändert. Doch die jüdische Gemeinschaft fühlt sich zusehends bedrohter und unsicherer gerade im Kontext der politischen Entwicklungen in Europa, die in Ungarn schon die Abschaffung der Presse und eine Art der schleichenden Gleichschaltung erreicht hat. Orbáns Handreichung an jüdische Organisationen, die in den letzten Jahren viele ihrer internationalen Kongresse in Ungarn abgehalten haben oder die bevorstehende europäische Makkabi im Sommer 2019 täuschen viele über eine Entwicklung hinweg, die sich als neuer Nationalismus tief in die Identität der Menschen eingebohrt hat. Dass ausgerechnet der israelische Premier in Allianz mit US-Präsident Donald Trump eine Allianz gegen George Soros eingegangen ist, befremdet junge Menschen auf dem Balkon an diesem Abend. Sie sprechen über die Zukunft als Juden in Ungarn und vor allem über ihren Plan B, wenn sich der Nationalismus noch stärker ausprägt. Das nächste Ziel der Orbán-Regierung ist die Abschaffung der unabhängigen Justiz. Wird auch dies in wenigen Jahren geschehen, ist für viele junge jüdische Ungarn erreicht, wovor sie sich gefürchtet haben: die Entkoppelung von ihrem Europa und dem Schutz der Minderheiten. Und so endet der Abend auf dem Balkon auf dem Campus des Europäischen Jugendzentrums bei der Limmud-Konferenz in einer kafkaesken Stimmung. Junge skeptische jüdische Studenten. Vor Augen die friedliche Donau, der Blick auf das Parlament, das vielleicht bald nicht mehr für Demokratie steht, wie es Ágnes Heller formuliert: «Die moderne Demokratie kann nur in Allianz mit Liberalen Werten existieren.»

Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.

Yves Kugelmann