«In vielen Teilen der Welt wird davon ausgegangen, dass Demokratie eine Gruppe von Menschen ist, die vor einem bestimmten Problem stehen und sich zusammenschliessen, um es auf eine Weise zu lösen, bei der jeder das gleiche Mitspracherecht hat.»
David Graeber
Die Macht, die vom Volk ausgeht, die wunderbare Errungenschaft der Demokratie, scheint sich gerade in einem kleinen Formtief zu befinden. Überall in Europa, um den zentristischen Blick einzunehmen, den westliche Menschen schätzen,
sind die guten, die linken, die demokratischen Menschen ratlos.
Da haben sie sich an all den Rechten abgearbeitet, demonstriert, Märsche und Konzerte gegen rechts, AfD, SVP-Karikaturen. Ich rede nicht mit Rechten und so reden sie mit sich und ihrer Ratlosigkeit. Wie können die Menschen nur so dumm sein, sagen sie, und meinen immer die anderen.
Die letzten Jahre waren linke Menschen, die einst für Solidarität, soziale Teilhabe, Klassenkampf und Kapitalismus und Systemkritik standen, oft in den Diensten derselben Verwaltungsbereiche aktiv.
Sie kämpften gegen alle, die eine andere Meinung hatten, gegen Israel, gegen jüdische Künstler und Wissenschaftlerinnen, gegen Menschen, die sich mit einer neuen Form der inklusiven Rechtschreibung schwertaten, und zerlegten sich in Identitätskämpfen, die nie Klassenkämpfe waren und nie Universalismus zum Ziel hatten. Sie kämpften für eine Bürokratie und waren doch einst angetreten, sie zu hinterfragen.
Die scheinbaren Mehrheiten der Bevölkerungen hatten in den Jahren der Dauerpanik, der immer schärfer werdenden Verständnislosigkeit füreinander, dem Entsetzen darüber, dass sie als Volk ebenso keine Macht haben, eingebracht. Die Staaten beschliessen Milliarden für die Aufrüstung, während der Einzelne kaum mehr in der Lage ist, Miete, Hypothek, Versicherungen und Lebensmittel zu zahlen, doch uns geht’s noch gut, sagen sie und schauen in Kriegsgebete. Aber, warum fühlt es sich nicht so an, also ob es den Massen gut ginge, die sich so machtlos fühlen, die in den meisten Ländern Europas nur wählen können, das ist ihr letztes Machtmittel, danach können sie nurmehr abwarten und beten.
Die viel beschworene Kluft zwischen arm und reich ist in der Pandemie zum Canyon geworden, selbst in der Schweiz häufen sich die Firmenbankrotte nach Corona, Energieverteuerung, Kaufunlust. Die realen Probleme ihrer Existenz wollen viele besprochen und bekämpft sehen und haben doch das Gefühl, das Einzige, was wächst, sind die Vorschriften. Die Doppelpunkte und Sterne, die Identität statt Universalität, die dauernden Panikmeldungen, dieses Geschrei aus allen Kanälen, die Kunst, die sie belehren will, die Medien, die sie verschrecken oder belehren, die Politik, die irgendwas tut in den meisten Ländern Europas, und die Politiker, die Fehlverhalten einfach aussitzen, bis sie gestorben sind. So viele Gründe gibt es, an allem zu zweifeln in Europa, am System, der Politik, der Zukunft, der Klassengerechtigkeit, und doch sollte der einzelne mit der leichtesten Übung beginnen, um die Demokratie zu retten: anderen wieder zuzuhören, andere Meinungen zuzulassen, und ruhig zu werden, ruhig zu werden, die Endgeräte schlafen zu lassen und sich die grösste Freiheit der Demokratie zu nehmen – zu denken. Eine wirklich eigene Haltung entwickeln. Das ist das wirksamste Mittel für eine starke Demokratie.
Sibylle Berg ist deutsch-schweizerische Schriftstellerin und Dramatikerin. Sie lebt in Zürich.
die literarische Kolumne
10. Jan 2025
Das wirksamste Mittel für eine Demokratie
Sibylle Berg